Wie ein Schaf unter Wölfen

Nasiry war ein Hirtenjunge in Afghanistan bis er zur Armee einberufen wurden und eine Mine sein Bein zerfetzte. Und bis er selbst einen Hirten fand. (Auszug aus dem gleichnamigen Buch von Christian Nani, Vom Hirtenjunge zum Gefängnispastor in Afghanistan, Open Doors, Brunnen, Seite 52)

„Sie möchten gern, ihr würdet ungläubig, wie sie ungläubig sind, sodass ihr ihnen gleich würdet. So nehmt euch niemanden von ihnen zum Freund, bis sie auf dem Weg Gottes auswandern. Wenn sie sich abkehren, dann greift sie und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und nehmt euch niemanden von ihnen zum Freund oder Helfer.“

(Sure 4,89)

Nasiry kannte diese Passage aus dem Koran sehr gut. Tausende Male hatte er sie auf Arabisch wiederholt und auf Paschtunisch und auf Dari diskutiert. Er hatte sie von Mullahs gehört, von Verwandten und Nachbarn, während sie Tee tranken, Geschäfte besprachen, über den Krieg gegen die Russen schimpften oder über die westlichen Heiden, die ungläubigen Kafirs, also die Christen, spotteten.

Ridda … Abtrünnigkeit, Abkehr vom Islam, Entfremdung vom Glauben der Väter, Schande für die Familie und die gesamte Gemeinschaft, die mit dem Tod bestraft wurde. In seinem Land kam dieser Tod per Galgen. Er hatte noch nie gesehen, wie jemand gehängt wurde, aber seine Schwester schon. Sie wollte nie darüber sprechen. Nasiry kannte die Schmach, die die Abkehr eines Muslims wie ihm vom Islam mit sich brachte: Sein ganzes Leben lang war ihm die Schwere dieses Vergehens eingetrichtert worden: durch Belehrungen, Gesten, Blicke und Strafen. Konnte man jemandem etwas Schlimmeres wünschen? Nein, er glaubte, das war das Schlimmste, was einem in Afghanistan passieren konnte. Schlimmer als der Krieg, die Perspektivlosigkeit, die Verzweiflung, schlimmer als eine Landmine. Ja, es war schlimmer, als ein Bein zu verlieren.

Murtad! So beschimpften sich die Kinder gegenseitig, natürlich nur, wenn die Erwachsenen außer Hörweite waren, sonst gab es Arger. Murtad, das waren die Ex-Muslime, die Verräter, die Abtrünnigen der schlimmsten Sorte. Auf ewig verflucht hingen sie am Galgen, während das ganze Dorf sie bespuckte und verhöhnte. Noch einmal: Gab es etwas Schlimmeres, das man jemandem wünschen konnte?

Diese Erinnerung war in jede Muskelfaser, jede Zelle seines Körpers eingraviert: Man wendete sich niemals vom Islam ab! Das war elementarer Bestandteil der genetischen Erbmasse eines jeden Afghanen. Deshalb wehrte er sich mit aller Macht gegen diesen Gedanken, der sich immer wieder in seinem Inneren bemerkbar machte. Er konnte sich einfach nicht eingestehen, dass er das Buch wollte …

„Du liebst Bücher“, flüsterten ihm Stimmen in seinem Kopf zu. „Du bist durchaus in der Lage, dich nicht beeinflussen zu lassen. Du bist reif. Du hast studiert“, provozierten sie ihn immer wieder. Außerdem, gib es zu: Wie lange ist es her, dass du zu Allah gebetet hast? Jeder weiß, dass deine Besuche in der Moschee eine einzige Farce sind!“ Diese letzten Gedanken erschreckten ihn am meisten. Er wurde unfassbar wütend, wenn er diese Gedanken hatte. Aber sie waren unkontrollierbar und fast immer präsent. Sie machten die Zeit mit Kamila und den Kindern, die Arbeit, den ganzen Alltag unerträglich.

„Ungläubig sind die, die sagen: Allah ist der dritte von dreien, wo es doch keinen Gott gibt außer dem einzigen Gott Allah“ (Sure 5,73)

 Er las diese Passage aus dem Koran viele Male, um sie sich einzuprägen. Er konnte, nein er durfte sich dem Buch der Christen nicht nähern. Es war voll von wirren polytheistischen Theorien, die sagten, Allah sei der dritte von drei Göttern! Ein Götter- Trio? Nein! Niemals! Das war reiner Wahnsinn! Aber das Handeln dieser beiden Westler, das Risiko, das sie eingegangen waren, um das Kind zu retten, ließ ihn einfach nicht los. Überall sah er ihre Gesichter. In Wirklichkeit sah er sie nie wieder, aber seine Erinnerung klammerte sich verbissen an sie. Dieses Lächeln, diese sicheren und sanften Hände, die das verletzte Kind aufhoben.

Er war verrückt geworden.

Das wurde ihm klar, als er sich vor der Tür des Arztes wiederfand, der ihn angestellt hatte; er hielt die Türklinke krampfhaft in der Hand. Es war, als hätten die Meuterer in seinem Kopf das Schiff übernommen. Und sie riefen vom Achterdeck aus der gesamten Mannschaft Befehle zu, den Steuermann eingeschlossen: Er drückte die Klinke und trat zitternd ein, während er, der Kapitän, sich selbst befahl, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu fliehen. Zu fliehen vor diesem Wahnsinn, vor dem unbändigen Wunsch, diesem unbekannten Gott zu begegnen.

„Steh nicht einfach so rum, Nasiry! Sprich! Was willst du?“, sagte der Arzt mit der Brille auf der Stirn zu ihm.

„Ich will das Buch!“, hörte er sich sagen. Erst als der Arzt aufschaute und ihn verwundert musterte, wurde ihm klar, was er gerade getan hatte.

„Welches Buch …?“, antwortete der Mann plötzlich sehr bedächtig und ging in die Defensive.

Etwas an Nasiry hatte ihn beunruhigt.

„Ich hätte gern Ihr Buch“, wiederholte er wie in Trance, während er stocksteif dastand.

„Welches Buch, Nasiry?“ Der Arzt sprach dieses Mal tiefer, mit einer ernsten Stimme. Nasiry schluckte hörbar. Er schwieg und hielt den Atem an. Er hatte nicht mehr die Kraft weiterzusprechen.

„Warum willst du unser Buch? Das ist nichts für Afghanen“, durchbrach der Arzt das Schweigen. Jetzt klang seine Stimme allerdings sanfter. Dann setzte er sich seine Brille auf und bedachte Nasiry mit einem breiten Lächeln. Das war gerade so genug, um in Nasiry einen Funken Hoffnung aufkeimen zu lassen: „Ich will es lesen!“

„Ich sage dir noch einmal, das ist nichts für Afghanen.“

„Aber ich will es lesen! Bitte, ich halte es nicht mehr aus: Ich muss es wissen. Ich muss herausfinden, warum …“

„Geh zurück an die Arbeit“, unterbrach ihn der Arzt, nicht herrisch, aber bestimmt, ohne dass dabei das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. Nasiry zögerte, ging dann hinaus, schloss die Tür hinter sich und ließ endlich die Klinke los.

Ein Schwindelanfall zwang ihn, sich zu setzen. Er starrte auf seine Hand, als hätte sie etwas verbrochen. Er schwitzte heftig. Er schüttelte den Kopf und wieder kam ihm das Bild der beiden Westler in den Sinn, als sie den kleinen Jungen ins Auto luden: „Botschafter eines unbekannten Gottes“, murmelte er ins Leere.

Es verging eine Woche, in der Nasiry nicht viel schlief. Zu der Angst vor den Folgen seines Fehltritts gesellte sich die Befürchtung, dass es ihn den Job kosten könnte, den er so sehr liebte. Er fluchte über sich selbst. Wie dumm konnte man sein? Kamila hatte er nichts von alldem erzählt. Er hatte sogar aufgehört, mit ihr über das ausländische Paar zu sprechen.

Er hatte das Gefühl, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Das Gefühl, dass der Faden reißen könnte, stellte sich ein, als der Arzt ihn aus dem Nichts heraus plötzlich fragte: „Na-siry, am Ende des Tages brauche ich dich für einen Auftrag. Es könnte spät werden.“

Irgendetwas in seiner Stimme machte Nasiry Angst: keine Spur von der üblichen Höflichkeit. Der Arzt gab ihm keine Chance zu antworten, sondern schob sich an ihm vorbei und ging, ohne ihn auch nur anzusehen.

Der Tag zog sich wie Kaugummi und Nasiry arbeitete wie ein Roboter. In seinem Inneren tobte ein Kampf zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

Dann kam das Ende seiner Schicht, und nachdem er alles geputzt und gereinigt hatte, ging er sichtlich nervös zum Empfangstresen. Der Arzt nickte ihm zu, sagte aber kein Wort. Sie machten sich auf den Weg zum betriebseigenen Parkplatz, der durch hohe Mauern mit Stacheldraht und ein dickes Metalltor mit Wachen davor geschützt war. Die Spuren eines Mörserangriffs waren an einer Mauer neben den Mülltonnen noch gut zu sehen und erinnerten an den permanenten Kriegszustand, in dem sich das Land befand. Das Rehabilitationszentrum war dreimal getroffen worden, aber die Schäden hielten sich in Grenzen. Die letzte Explosion war schon zwei Monate her.

Sie stiegen schweigend in das Auto, warteten darauf, dass das Tor geöffnet wurde, und grüßten beim Hinausfahren die Wachen.

Nach etwa zehn Minuten Fahrt brach der Arzt endlich das Schweigen: „Warum sollte ein frommer Muslim das Buch der Christen haben wollen?“

„Weil ich es lesen will!“, antwortete er trocken und war über die Empörung in seiner Stimme selbst überrascht. Es ärgerte Nasiry, dass der Arzt ihn als „fromm“ bezeichnet hatte. Es war, als hätte er tief in ihm gelesen und seine „Fehler“ entdeckt. Er merkte sofort, wie verstimmt er war.

„Ich möchte es lesen. Das ist alles“, wiederholte er, dieses Mal in ruhigerem Ton.

„Ich muss dir sicher nicht sagen, wie ungewöhnlich das ist sagte der Arzt, wobei er das Wort „ungewöhnlich“ besonders betonte. Nasiry schüttelte den Kopf und starrte ihn an. Nach die¬sem Gespräch schwiegen sie mindestens dreißig Minuten lang, aber er bemerkte, wie der Arzt während der Fahrt oft zu ihm herüberschaute. Sie fuhren in ein Viertel, das zum Teil von Aus¬ländern bewohnt war und wo es deshalb von US-Soldaten und anderen Fremden nur so wimmelte. Sie hielten vor einem großen Tor und hupten mehrmals, bevor es automatisch aufschwang. Sie parkten auf dem einzigen freien Platz.

„Mein lieber Hazara (Volksgruppe in Afghanistan), heute werde ich dir Kurt vorstellen“, sagte er zu ihm, nun wieder in seinem üblichen, scherzhaften Ton.

Sie betraten eine große Wohnung im dritten Stock. Das Gebäude wurde nur von Europäern bewohnt oder zumindest schlussfolgerte Nasiry das aus den Gegenständen, die vor den Haustüren standen. Kurt, ein schlanker und sehr großer junger Mann, begrüßte sie mit einem breiten Lächeln und umarmte den Arzt. Nasiry hatte ihn noch nie gesehen. Er war Deutscher und sprach fast akzentfrei Dari. Er begrüßte Nasiry mit den traditionellen afghanischen Willkommensformeln, was ihn ein bisschen beruhigte. Eigentlich klopfte sein Herz nämlich bis zum Hals und er fühlte sich, als wäre er gerade auf dem Weg in einen Wald voller blutrünstiger Wölfe.

Als er auf einem ausgewaschenen Teppich vor einem großen Tisch Platz nahm, bot ihm Kurt Tee an, den er dankend annahm. Währenddessen versuchte er an irgendetwas Schönes zu denken, was ihn vielleicht beruhigen würde. Das Gesicht seines Hundes kam ihm in den Sinn, an dem Abend, als er den großen Wolf gejagt hatte.

„Darf ich dich etwas fragen, Nasiry?“, wandte sich Kurt mit einem ansteckenden Lächeln an ihn und setzte sich mit gekreuzten Beinen hin.

Er nickte.

„Ein Mann kommt in eine Moschee. Er ist hungrig nach Gott und sehnt sich danach, in seiner Gegenwart zu sein. Der Mullah geht auf ihn zu und begrüßt ihn so, wie es die Tradition verlangt. ,Ich will in Gottes Gegenwart sein1, sagt er ihm. ,Geh und wasche deine Hände, deine Füße, deinen Kopf und dein Gesicht, dann komm zurück1, antwortet ihm der Mullah.

,Bitte, ich brauche ihn jetzt!“, beharrt der Mann.

,O ihr, die ihr glaubt! Wenn ihr zum Gebet aufsteht, wascht euer Gesicht, eure Hände [und Unterarme] bis zu den Ellbogen, streicht mit nassen Händen über den Kopf und wascht die Füße bis zu den Knöcheln“, antwortet der Mullah und zitiert dabei den Koran. Aber der Mann fleht ihn weiter an: ,Ich muss in der Gegenwart Gottes sein!“

,Geh und wasch dich! Du kannst hier nicht eintreten, du würdest diesen Ort unrein machen. Geh dich waschen und komm dann zurück“, sagt der Mullah abschließend.“

„Was denkst du? Welcher der beiden Männer ist im Recht?“, fragte ihn Kurt.

Stille trat ein. Kurt beobachtete ihn ruhig mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Er schaute ihn erwartungsvoll an, aber ohne ihn unter Druck zu setzen. Nasiry murmelte vor sich hin. Man konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten, und er gab ein leichtes Summen von sich. Aber es war schwer zu verstehen, was er sagte. So seltsam die Situation auch schien, ließen sie ihn trotzdem gewähren, ohne einzugreifen, ohne ihn aufzufordern, etwas zu sagen. Kurz daraufbrach Nasiry selbst das Schweigen:

„Gott hat alles erschaffen. Die Erde, den Himmel, die Sonne, die Moschee, alles kommt von Gott. Auch der Mensch ist von Gott geschaffen. Ich glaube nicht, dass Gott sich sehr für unsere Kleidung interessiert oder dafür, wie sauber oder staubig wir sind. Der Mann ist im Recht, weil er sich nach Gott sehnt, Gott liebt und bei ihm sein möchte. Der Mullah scheint blind zu sein. Oder er will nur zeigen, wie rein und sauber er selbst ist, wie rein und sauber seine Moschee ist. Der Mann ist im Recht, weil er Gott braucht und ihn sucht“, sagte er in einem einzigen, aufgeregten Atemzug.

Er wartete auf eine Reaktion. Aber es kam keine. Kurt wechselte einfach das Thema.

„Ich habe eine Lampe, die brennt. Ist es deiner Meinung nach besser, einen schönen farbigen Schirm darüber zu stellen oder die Lampe frei zu lassen, damit das Licht ungehindert leuchten kann?“

Er beschloss, mitzuspielen, falls das hier ein Spiel sein sollte. „Die Lampe sollte nicht abgeschirmt werden. Jeder braucht Licht, um zu sehen, warum sollte man es verdecken? Je mehr Licht, desto besser in dieser dunklen Welt.“

Kurt lächelte ihn an, stellte sich vor ihn und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er musste aufpassen, dass er sich nicht den Kopf an der Lampe stieß. Ohne irgendwas zu erklären, ließ er Nasiry und den Arzt alleine und ging in den Flur, der zu den Schlafzimmern führte.

Der Arzt blieb still und beobachtete ihn. Nasiry wurde noch unruhiger. Er verstand nicht, was vor sich ging, und er traute sich nicht zu fragen. Einige Augenblicke lang fühlte er sich wie in einer Falle.

Nach fünf Minuten kam Kurt mit einem Buch in der Hand zurück. Es war DAS Buch.

„Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde … “, las Kurt in Dari daraus vor, während er sich wieder zu ihnen setzte. Dann schloss er das Buch und reichte es Nasiry. „Hier ist das Buch. Und hier ist eine Hülle dafür. Lass sie immer dran, das ist sicherer“, sagte er und reichte ihm den Einband eines etwa gleich großen Anatomie-Buches.

Nasiry gehorchte und zitterte. Er brauchte mehrere Versuche, um das Buch in den Einband zu wickeln. Es war heiß. Es war radioaktiv. Es war giftig. Es war unrein. Es war tödlich. Innerhalb von Sekunden rauschten alle möglichen Gedanken durch seinen Kopf.

„Bist du sicher?“, fragte ihn der Arzt und half ihm, den Umschlag um die Bibel zu legen.

,Ja, ja, Doktor, ich bin sicher. Ich bin mir sicher.“

Noch am gleichen Abend begann er zu lesen, als Kamila und die Kinder schliefen. An Schlaf war bei Nasiry nicht zu denken. Jede Zelle seines Körpers war in Alarmbereitschaft, eine Mischung aus Aufregung und Angst.

Die Schöpfungsgeschichte sprach ihn sofort an. Die Feierlichkeit dieser Worte erfüllte seine Seele. Er ertappte sich mehrmals dabei, wie er murmelte: „Wie viele Lügen. So viele Lügen!“ Aber damit meinte er nicht das, was er gelesen hatte, sondern das, was ihm bis dahin beigebracht worden war.

Das Buch war mächtig. Es war durchtränkt von Autorität, so kam es dem durstigen Nasiry vor. Ja, er war durstig. Seine Kehle brannte. Er trank Tee und ein Getränk, das Kamila oft zubereitete. Er merkte bald, dass dieser Durst nicht leicht zu löschen war. Es war etwas, das nicht von der Kehle ausging, sondern von seiner Seele. Er las stundenlang.

Tausende Fragen brannten ihm auf der Zunge, so viele, dass er sie aufschreiben musste. Er nahm ein Notizbuch, das er für die Arbeit benutzte, drehte es um und begann auf der letzten Seite zu schreiben. Er schrieb auf Englisch, eine kleine Vorsichtsmaßnahme, falls ein Nachbar oder ein Verwandter das Büchlein fin¬den sollte. Er beherrschte diese Sprache nicht gut genug, um grammatikalisch korrekte Sätze zu formulieren, aber es waren meist sowieso nur kurze, meist kryptische Stichpunkte zu den Fragen, die er im Kopf ausformuliert hatte.

Als die Morgendämmerung anbrach, versteckte er die Bibel an einem geheimen Ort, den er sich auf der Rückfahrt überlegt hatte.

Bei der Arbeit sprach er kein einziges Wort mit dem Arzt. Er hielt sich von ihm fern. Er wusste nicht genau, warum, es war einfach so ein Bauchgefuhl. Er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, aber das, was er gelesen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Eigentlich wollte er nichts mehr, als nach Hause zu gehen und weiterzulesen. Er wollte diesen unbekann¬ten Gott weiter kennenlernen. Den Gott, der ihm bisher durch ein Dickicht aus Lügen verborgen geblieben war. Derjenige, der die Ausländer dazu brachte, ihr Leben für das afghanische Volk zu riskieren.

Es war der Arzt, der gegen Ende seiner Schicht auf ihn zukam. Er war gerade dabei, Matten und Therapieutensilien in der Sporthalle aufzuräumen. Er bemerkte ihn nicht, bis er seine Stimme hörte: „Nasiry, halte dir die Freitagnachmittage frei.“

Er erschreckte sich so sehr, dass er über eine Bank stolperte und fast hinfiel. Der Arzt lachte laut auf und Nasiry sah ihn erschrocken an, als wäre er der schlimmste Komplize auf Erden. Als würde er mitten in einem Einbruch Lärm machen und herumblödeln.

,Alles in Ordnung?“

Nasiry nickte und fügte hinzu: „Ich werde am Freitag da sein.“

Die Freitage wurden zu einem festen Termin. In Kurts Haus konnte er so viele Fragen stellen, wie er wollte. Und er hatte viele. Sie reichten von simpleren Themen, die sich meist auf die Unterschiede zum Islam bezogen, bis hin zu komplexeren Dingen: „Wie ist es möglich, dass Jesus ganz Mensch und ganz Gott ist?“

Auf jede Frage schien Kurt eine Antwort zu haben. Aber oft antwortete er selbst mit Gegenfragen, die Nasiry ins Grübeln brachten und weitere Hypothesen aufstellen ließen. „Warum sollte ein Gott, der das Universum erschaffen hat, nicht seinen Sohn auf die Welt senden und das Wunder vollbringen können, das du gerade beschrieben hast? Ist es für dich einfacher zu glauben, dass ein Mensch auf dem Wasser geht? Oder dass sich ein Meer in zwei Hälften teilt?“

An diesen Nachmittagen trank er gierig aus der Quelle. Oft blieb er zum Abendessen. In diesen Nächten konnte er nicht einschlafen. Aber was am ersten Freitag, an dem sie sich trafen, geschehen war, zog ihn tatsächlich in den gefürchteten Wald voller blutrünstiger Wölfe. Nur dass er statt der Wölfe Schafe fand. Seine geliebten Schafe. Und einen Hirten, ja DEN Hirten schlechthin, wie er bald herausfinden würde.

Gleich zu Beginn eines Treffens fragte ihn Kurt, ob er für ihn beten könne. Nasiry stimmte zögerlich zu. Kurt legte ihm die Hand auf die Schulter und begann auf Dari zu beten. In dem Moment, in dem er dabei den Namen Jesus erwähnte, breitete sich eine himmlische Ruhe in Nasirys Herz aus. Jeder verkrampfte Muskel entspannte sich. Er schloss instinktiv die Augen und alle Angst verschwand, um einer unfassbaren, völlig irrationalen Freude Platz zu machen.

Er weinte, wie er es nur von Babys kannte. Er schluchzte und schniefte. Er sah sich inmitten einer Herde dicker Schafe, die geschoren werden sollten, während er Kurts Stimme lauschte.

Als sein neuer Freund das Wort Amen mehrmals wiederholte, öffnete er wieder die Augen. Dieses Mal sprach der Arzt zu ihm: „Willkommen zu Hause“, sagte er und nahm ihn in den Arm.

Wieder musste er weinen. Er wusste nicht, wie lange, aber er weinte so viel, dass er sich erschöpft und ausgelaugt fühlte. Später wurde ihm klar, dass er sich noch nie so gefühlt hatte, so … zu Hause. Hier war er am richtigen Ort.

Es war seine Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Jetzt war er kein Paket im Leben anderer Menschen mehr. Er war frei. Auch wenn er nicht genau wusste, wovon.

Alles ging schnell. Unglaublich schnell. Einige Gedanken, die ihn jahrelang verfolgt hatten, verschwanden. Düstere Gedanken über seine Behinderung, über seine Hazara-Herkunft. Gedanken aus seiner Kindheit, aus seiner Zeit als Soldat, aus seiner Zeit im Krankenhaus. Je mehr er in der Bibel las, je öfter er an diesen Treffen teilnahm, desto mehr fühlte er sich wie neugeboren. Es war, als wäre er … angekommen. So etwas hatte er noch nie erlebt!

„Was ist los mit dir, Nasiry?“, fragte Kamila ihn eines Abends. Sein Verhalten verwirrte sie. An einem Morgen hatte er plötzlich zu ihr „Ich liebe dich, Kamila“ gesagt. Sie war völlig perplex in die Küche gelaufen und hatte ihn einfach im Bad stehen lassen. Eine Hitzewelle war durch ihren Körper gelaufen, so heftig, dass sie sich erst einmal Handgelenke und Stirn mit Wasser abkühlen musste. Was war da nur los?

Aber es war nicht nur das: Es war sein Verhalten, der Respekt, den er ihr entgegenbrachte, die Sorgfalt, mit der er ihr im Haushalt half. Seine Hände waren plötzlich zu einer Quelle des Guten für sie geworden. Sie merkte, dass sie ihnen nicht mehr mit einem ängstlichen Blick folgte, wenn er in ihrer Gegenwart war. Im Gegenteil, zum ersten Mal sah sie seine Hände richtig an.

Nasiry bat sie, sich hinzusetzen. Die Kinder spielten mit den älteren Nachbarskindern draußen im Hof.

„Sie haben uns belogen, Kamila. Sie haben uns die ganze Zeit belogen. Jesus ist der Sohn Gottes.“ Er sagte es frei heraus, ohne drum herum zu reden. Er hatte gelernt, mit Fingerspitzengefühl über diese Dinge zu sprechen, aber an diesem Tag schossen die Sätze nur so aus ihm heraus. Als würde man Feuerwerkskörper in ein Lagerfeuer schleudern.

„Nein, nein, ich will das nicht hören“, erwiderte Kamila und sprang auf, nachdem sie eine ganze Weile wie festgefroren dagesessen hatte. „Ridda“ (Abtrünniger), fugte sie mit leiser Stimme hinzu und hielt sich die Hand vor den Mund, als hätte sie dieses Wort erbrochen. Sie wiederholte es mehrere Male. Jedes Mal mit mehr Verachtung in der Stimme. Nasiry nahm sie sachte am Arm, aber Kamila riss sich los und zuckte verängstigt zurück.

„Meine Liebste“, er wusste, dass sie diesen Worten nicht widerstehen konnte, „die Bibel, das Buch der Christen, ist das Wort Gottes! Das wahre Wort Gottes. Man hat uns Lügen über die Christen erzählt und auch über ihr Buch! Man hat uns gesagt, dass es die Menschen vom rechten Weg abbringt, zu allen möglichen Ausschweifungen verfuhrt, zur Trunkenheit, zum Ehebruch, zum Diebstahl. Aber das ist alles falsch!“

„Du hast die Soldaten doch auch gesehen! Die Amerikaner! Du hast sie auch gesehen, wie sie in ihren Bars sitzen! Sie betrinken sich hemmungslos und benehmen sich furchtbar! Bist du blind geworden?“, unterbrach sie ihn zum ersten Mal in ihrer Ehe.

„Das sind keine Christen oder sie folgen jedenfalls dem christlichen Glauben nicht. Lass dich nicht täuschen, Kamila. Das Buch der Christen ist gegen all diese Dinge. Schau, ich werde es dir beweisen.“ Nasiry lief auf den Dachboden und kam mit seiner Bibel in der Hand zurück.

Als sie merkte, was ihr Mann ihr zeigte, war Kamila wie versteinert, als hätte sie eine Klapperschlange gesehen. Nasiry hatte eine Grenze überschritten. „Du bist verrückt geworden! Der Prophet sagt: ,Wenn ein Muslim seine Religion verrät, töte ihn“, brüllte sie und fuchtelte mit den Händen, als wolle sie sich gegen eine Schlange aus Papier verteidigen. Nasiry war verblüfft, dass sie aus einem Hadith  zitierte.

„Was werden unsere Familien sagen?“, fragte sie mit einer etwas freundlicheren Stimme. Sie schluchzte bitterlich und blieb auf Distanz.

Nasiry löste sich aus seiner Starre, sprang auf, packte sie und … umarmte sie ganz fest. Er hielt sie einige Augenblicke lang im Arm, bis sie sich von ihm löste. Sie weinte leise. Zitternd nahm sie sein Gesicht in ihre Hände, als würde sie ihn anflehen. Aber er ließ ihr keine Zeit, noch einmal zu sprechen. „Bitte, setz dich hin. Hör dir an, was ich dir vorlese. Und entscheide selbst.“

Sie gab nach und hörte dem Mann zu, den sie zu kennen glaubte. Der Mann, der sich so sehr verändert hatte. Etwa eine halbe Stunde lang hörte sie ihm zu. Sie protestierte nicht. Es war seine Art, die ihre Zweifel zerstreute. Zuerst war ihr es nicht bewusst, aber sie gab nicht nur ihrem Mann nach: Unterwürfigkeit war schließlich Teil des Ehevertrages. Sie wurde von etwas Größerem überwältigt. Etwas, das jegliche Sicherheit, die sie sich bis dahin aufgebaut hatte, zunichtemachen würde. Sie spürte es, aber sie konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, was ihren Mann zu dem Mann gemacht hatte, den sie jetzt vor sich sah.

Einem viel besseren Mann.

Am darauffolgenden Freitag kam Kamila mit zu dem Treffen im Haus von Kurt. Sie mitzunehmen war ein Risiko, sagte der Arzt. Aber es waren nun mal riskante Zeiten. Schon in Afghanistan zu arbeiten war ein Wagnis. Aber seinen eigenen Glauben dann auch noch mit einem einheimischen Muslim zu teilen, das war wie ein Glücksspiel auf Leben und Tod.

Nasiry hatte Tage damit verbracht, Kamila auf das Treffen vorzubereiten. Der offene Streit an dem Abend, an dem er ihr sein Herz geöffnet hatte, war einem schweigsamen Waffenstillstand gewichen. Kamila machte den Mund nicht auf: Sie hörte zu, wie ihr Mann ihr stundenlang von diesem unbekannten Gott erzählte.

Bei Kurt war eine Frau namens Katerina, die Kamila sofort in die Küche einlud. Sie beteten nicht mit ihr, wie sie es zu Beginn des Treffens zu tun pflegten. Nasiry war darüber zunächst enttäuscht; aber es war der richtige Weg. Katerina verstand, dass Kamila noch nicht bereit war. Während die Männer sich einem intensiven Bibelstudium über das Wesen Jesu widmeten, setzten sich die Frauen mit einem Tee in die Küche. Sie unterhielten sich unglaublich offen und ehrlich über das, was vor sich ging.

Kamila merkte es zuerst selbst nicht, aber sie begann, sich zu verändern. Sie prüfte all ihre bisherigen Überzeugungen. Anfangs vielleicht noch, um ihre Familie zu schützen, später auch aus reiner Neugier. Nein, es war nicht wirklich Neugier: Es war die Sehnsucht, Gott kennenzulernen. Das wurde ihr klar, als Katerina ihr erzählte, wie sie Christus kennengelernt hatte. Und wieder waren es nicht nur die Worte, sondern die Art und Weise, wie sie davon erzählte, das Strahlen in ihren Augen, der Friede, der von dieser Frau ausging. All das brach die fest verschlossenen Türen, hinter denen Kamila ihre Verwundbarkeit versteckt gehalten hatte, nach und nach auf. Erst am Ende betete Katerina für sie. Kamila sah ihr schweigend zu, schwitzend und angespannt, als könnte sich die Hand, die sanft auf ihrem Arm lag, plötzlich zu einer Ohrfeige erheben. Schließlich fragte Katerina sie, ob sie noch Fragen habe: Natürlich hatte sie welche. Tausende! Aber sie traute sich nicht, sie zu stellen. Sie schüttelte den Kopf.

Katerina zwinkerte ihr zu und forderte sie auf, ihr leise zu folgen. Heimlich schauten sie in das Wohnzimmer und lauschten. Nasiry sprach lebhaft und machte sich gleichzeitig Notizen. Er war konzentriert und ernst. Kurt sagte zu ihm: „Wer Jesus treu ist, weiß, dass seine Schande bedeckt und seine Ehre wiederhergestellt ist“, und dann, nach einer kurzen Pause, in der er im Buch der Christen nach etwas suchte, las er langsam: „Der Prophet Jesaja spricht:,Fürchte dich nicht, denn du sollst nicht zuschanden werden; schäme dich nicht, denn du sollst nicht zum Spott werden, sondern du wirst die Schande deiner Jugend vergessen und der Schmach deiner Witwenschaft nicht mehr gedenken. “

Diese Worte brannten sich in Kamilas Herz ein. So wie viele andere, die sie an diesem Nachmittag hörte. Es war, als ob eine Horde wilder Barbaren durch ihren Kopf zog und alle bisherigen Überzeugungen zerschlug. Sie verlor die Kontrolle. Sie sprach nicht mehr. Zumindest nicht mit den Menschen um sie herum, denn in ihrem Kopf schwirrten Millionen von Wörtern herum, wie ein dicht gedrängter Bienenschwarm, der sich immer wieder zu neuen Gedanken formte.

Nasiry, glaubst du an Jesus Christus als deinen Erlöser?“

,Ja, ich glaube.“

„Du hast vor uns deinen Glauben an Jesus bezeugt: Bist du be¬reit, ihm für den Rest deines Lebens zu dienen?“

Kurt und Katerina hatten immer wieder über den Preis gespro¬chen, den sie für ihre Abkehr vom Islam zu zahlen hatten, vor allem, wenn sie in Afghanistan blieben. Oft endeten diese Dis¬kussionen mit Tränen. Aber meistens weinte das deutsche Paar, nicht sie. Obwohl Kamila und Nasiry noch ganz am Anfang ih¬rer Reise standen, konnten ihre Mentoren schon von ihnen ler¬nen, auch wenn ihnen das nicht bewusst war.

,Ja, das bin ich.“

„Und so taufe ich dich durch die Gnade unseres Herrn im Na¬men des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Mit diesen Worten drückte Kurt Nasirys Oberkörper nach hinten und legte ihm eine Hand auf den Kopf, um ihn vollständig un¬terzutauchen. Als er wieder auftauchte, lachte Nasiry und sagte immer wieder: ,Amen, Amen!“

Katerina begleitete Kamila bei der Taufe, während Kurt im Stehen dieselben Worte zitierte und die lebensverändernde Frage stellte. Die zierliche Afghanin zögerte nicht. Ab jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie konnten unmöglich wissen, wohin diese Ent¬scheidung sie führen würde. Aber wer hätte das damals sagen können?

Als sie die Schwelle ihres Hauses überquerten, war für Nasiry allerdings eines gewiss: Er war jetzt nicht mehr der Sohn einer Dienerin. Sondern ein Kind des Königs der Könige! Diese Wahr¬heit zu verstehen gab ihm die Kraft für seine nächsten Schritte im Glauben. Einschließlich der Aufnahme seines ersten Jüngers.