Wilhelm Busch – Papa geh weg

Wir liegen im Gras am Waldrand. Um uns herum ist die Stille eines heißen Sommertages. Wie ist das schön! Das grüne Laub, der tiefblaue Himmel, an dem weiße Wölkchen schweben, das Summen irgendwelcher Käfer

By August von Wille †1887 (Scan: de:Benutzer:Morty) – Transferred from de.wikipedia to Commons., Public Domain,


Wir sind aus der grauen Industriestadt hinausgewandert und liegen nun hier. Aber man wird die Stadt nicht so recht los. Sie geht mit in unseren Nerven, in unseren Gedanken und Herzen. So erzählt mein Begleiter, der Bergmann, vom Leben unter Tage. Er erzählt von dem ruppigen Betriebsführer und dem gemütvollen Steiger, von kleinen Unglücksfällen und von schwerer Alltagsmühe, von der Hitze der Stollen und der Einsamkeit »vor Ort«.

»Du!«, unterbreche ich ihn, »wie bist du eigentlich in den ›Pütt‹ gekommen? Du warst doch nicht immer Bergmann?« Auf diese Frage hin wird es lange Zeit ganz still.
Da richtet er sich auf, schlingt die Arme um die hochgezogenen Knie und schaut mich fast erschrocken an. »Ja«, sagt er, »das ist eine furchtbar ernste Geschichte. Aber weil du nun schon fragst, will ich sie dir erzählen …

Also, du hast Recht, ich war nicht immer Bergmann. Früher war ich Bierkutscher. Mensch, das war ein anderes Leben: den ganzen Tag unterwegs auf dem Bock, zwei schöne Pferde vorgespannt …

Aber der Beruf wurde mein Unglück. Wir mussten von einer Kneipe zur anderen fahren. Überall gab es Aufenthalt. Man trank da ein Glas und dort eins. Und so kam‘s, dass ich ein regelrechter Trinker wurde, ohne dass ich es merkte. Die Kneipen wurden meine Heimat.

Ja, gewiss, zu Hause saß meine Frau. Und unser Kind, unser Töchterlein. Die waren mir damals nur lästig. Ich konnte die traurigen Augen nicht sehen, wenn ich angetrunken nach Hause kam. Eines Abends sitze ich wieder in der Kneipe. Da geht nur ein ganz klein wenig die Tür auf. Und herein kommt mein Töchterlein. Meine Kleine in der lärmerfüllten Kneipe!
Kein bisschen fürchtet sie sich. Langsam geht sie durch die Haufen der lärmenden, rauchenden, trinkenden, Karten spielenden Männer. Prüfend und suchend schaut sie sich um.

Jetzt hat sie mich entdeckt. Ein wenig zögernd kommt sie auf mich zu, zupft mich am Ärmel und flüstert: ›Papa, komm doch heim! Die Mama wartet auf dich. Wir haben‘s so gemütlich zu Hause. Komm doch!‹

Das war so unbeschreiblich lieblich und unwiderstehlich – das Kind in der wüsten Kneipe –, dass ich schon aufstehe, um mitzugehen. In diesem Augenblick fühle ich, wie alle Augen auf mich gerichtet sind. Ganz still ist es geworden. Ich sehe spöttische Gesichter, höre hämische Bemerkungen.
Da kommt es über mich – ja, ich weiß es selbst nicht, was –: Ärger über diese Überrumpelung; Furcht, vor den Kameraden als Pantoffelheld zu gelten; vielleicht auch Wut über mich selbst und meinen erbärmlichen Zustand … kurz, ich schreie wütend mein Kind an, reiße es am Arm hoch, dass es wimmernd anfängt zu weinen, schleife es durch die Kneipe und werfe es roh und gewalttätig zur Tür hinaus. Dann habe ich mich sinnlos betrunken.

Die nächsten Tage auch. Die Wochen vergingen unter dumpfem Druck und Taumel.

Eines Tages komme ich zum Mitutagessen nach Hause. Lärmend reiße ich die Tür auf. Da hebt meine Frau bittend und erschrocken die Hände. ›Was ist denn los?‹, poltere ich. Da zeigt sie auf die Bank, die in unserer Wohn-küche steht. ›Unser Kind ist krank, todkrank. Ich bitte dich …‹
Wahrhaftig, da liegt zwischen den Kissen mein Töchterlein mit fieberheißem Gesicht.

›Schlimm?‹, frage ich erschrocken. Meine Frau nickt stumm. Mensch, ich kann dir nicht sagen, wie mir zumute wurde. Mein Kind! Du hast noch keines verloren? Nein? Dann kannst du auch nicht verstehen, wie das ist. Ich eile auf die Bank zu: ›Mein Mädel!‹, und will ihr mit meiner Hand über die Stirn streichen. Da tritt ein furchtbares Entsetzen in ihre Augen, ihr Arm stemmt sich gegen meine Hand: ›Geh weg, Papa!‹

Zu Tode erschrocken stehe ich da. ›Mein Kind!‹ Aber aufgeregt winkt sie mich weg: ›Geh doch weg, Papa!‹ Und sie gibt keine Ruhe, bis ich wie der an der Tür stehe.

Ja, da stand ich nun zwei Stunden – ach, was sage ich: eine Ewigkeit lang stand ich da. Ich sah, wie meine Frau dem todkranken Kind zu trinken gab, sah, wie sie es stützte und bettete und streichelte, hörte, wie sie mit ihm betete.

Wenn ich aber versuchte, einen Schritt näher zu kommen, dann schrie mein Kind aufgeregt: ›Weg, Papa, geh weg!‹

Da gab ich‘s auf und blieb stehen. Stehen blieb ich, bis mein Kind starb.

In diesen zwei Stunden stand mein verlorenes Leben in seiner grauenvollen Wirklichkeit vor mir. In diesen zwei Stunden erntete ich, was ich gesät hatte. In diesen zwei Stunden zerbrach mir der Boden unter den Füßen. In diesen zwei Stunden erlebte ich die Hölle. In diesen zwei Stunden redete Gott mit mir –«

So weit erzählte er. Nun umgab uns wieder die Stille eines heißen Sommertages. Hoch oben am klarblauen Himmel segelten weiße Wölkchen …
»Und dann?«, unterbrach ich endlich das Schweigen. »Der Rest ist schnell erzählt. Ich gab meinen Beruf auf und wurde Bergmann. Ich fing wieder an, mit meiner Frau in die Kirche zu gehen. Denn ohne das Wort Gottes wäre es schließlich doch nichts geworden mit dem neuen Leben.«
Ich nickte.
Man versteht sich gut, wenn man manche Stunde zusammen über dem Wort Gottes gesessen hat …
Und dann standen wir auf und wanderten miteinander in den herrlichen Sonnenschein hinein.