Biblische Themen bei Bertold Brecht

Biblische Töne verwendet Brecht schon in seinen ersten Gedichten. Die Hauspostille, die der Zwanzigjährige 1918 veröffentlicht, lehnt sich an Luthers Kirchen- und Hauspostille von 1527 an. Dies war eine Sammlung von Predigten, die bei häuslicher Lektüre der Erbauung und moralischen Erziehung der Protestanten dienen sollte. Die Ausgabe von 1925 als Taschenpostille in Leder, Dünndruck, Goldschnitt, zweispaltigem Druck und roten Kapitelüberschriften erinnert vollends an religiöse Erbauungsbücher. Wie die Vorlage gliedert Brecht seine Hauspostille in Lektionen. Sie beginnt in der Ersten Lektion mit den „Bittgängen”. Dies sind im katholischen Ritus an bestimmten Tagen des Jahres durchgeführte Prozessionen mit gemeinsamen Gebeten. Der dritte Bittgang handelt

Von der Kindesmörderin Marie Farrar,
Geboren im April,
Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise.

Er ist verfaßt nach einem Gerichtsbericht. Fast gefühllos läßt Brecht die Marie F. den Kindesmord berichten. Doch am Ende wendet er sich im Stile der Propheten an uns:

Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten
Und nennt gesegnet euren schwangeren Schoß
Wollt nicht verdammen die verworfenen Schwachen
Denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid groß.

Brecht ist tief betroffen vom Elend und den Widersprüchen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Er sucht nach einer Form, einem Stil, einer Diktion. Die O-Mensch-Dramatik seiner Zeit ist ihm fremd. Er will provozieren. Dazu schlägt er unerhört neue Töne an, zynische, anarchische, expressionistische, nihilistische. Aber inmitten alles Schrillen und Neuen kehrt ein Ton immer wieder – der Ton der Bibel.

Christliches Mitleid und Frömmigkeit sind Brecht jedoch zuwider. Und so greift er weit zurück, bis ins Alte Testament. Hier wird der Mensch von Gott schonungslos in die Existenz geworfen, hier findet Brecht die archaische Kraft der Sprache und die Schicksale, die er braucht, um das Elend der Welt zu benennen. Hier findet er Haltungen, die nicht vernebelt sind vom süßen Gift des christlichen Moralins, mit dem schon Nietzsche kämpft.

So liegt die alttestamentliche Kraft dieses Rufs nicht allein im Tonfall. Brecht mobilisiert die großen moralischen Kategorien des Christentums wie Leid, Sünde, Verworfenheit, Verdammnis, um das Leid der Kreatur zu benennen und die barbarischen Umstände bloßzustellen. Im Refrain fährt er fort:

Ich bitt euch, wollet nicht in Zorn verfallen,
denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.

In der Zweiten Lektion der Hauspostille folgen „Exerzitien”. Seit Ignatius von Loyola sind dies geistige Übungen zur Andacht und Buße, die dem Sünder Läuterung verschaffen sollen. Hier findet sich das Lied:

Von der Freundlichkeit der Welt

Auf die Erde voller kaltem Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.

.

Von der Erde voller kaltem Wind
Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind.
Fast ein jeder hat die Welt geliebt
Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.

Das Bild, das der junge Brecht hier von unserer Existenz entwirft, ist erschreckend: Kein Trost wird gespendet zwischen den beiden Eckstrophen, zwischen Anfang und Ende, zwischen Geburt und Tod.

Doch auch dieses Bild ist biblisch: Kurz ist die Zeit, die uns gegeben ist. Es beschreibt die Tragik der Existenz und findet sich im Alten Testament: Hiob, der ein glückliches und Gott gefälliges Leben führt, erfährt in drei Botschaften, daß er zuerst all seine Habe und dann seine Kinder verloren hat. Er zerreißt sein Kleid und ruft (Hiob 1,20):

Nackt bin ich von meiner Mutter Leib gekommen,
und nackt werde ich wieder dahinfahren.

Das Bild von der Kürze des irdischen Lebens verwendet Brecht später auch in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen” :

In den alten Büchern steht, was weise ist: …
Die kurze Zeit ohne Furcht verbringen …
Böses mit Gutem vergelten
Gilt für weise.

Die alten Bücher – sind es die Weisheitsbücher der Bibel oder die der Chinesen? Die Dritte Lektion der Hauspostille enthält „Chroniken”, wie wir sie auch im Alten Testament finden. Allerdings beschreibt Brecht hier nicht das Leben von Königen, sondern das von Abenteurern, Verbrechern, Huren und Gescheiterten. In der „Ballade von den Abenteurern” fragt Brecht:

Ihr Mörder, denen viel Leides geschah.
Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Muetter geblieben
Wo es stille war und man schlief und war da?

Wie schon in der Ballade von der Kindesmörderin taucht das Bild des Mutterschoßes auf, das Brecht vom Beginn bis zum Ende seines Schaffens verfolgt. Dieses Bild findet sich häufig im Alten Testament, darunter mehrmals dort, wo der schwer geprüfte Hiob die Stunde seiner Geburt verflucht:

Warum starb ich nicht von Mutterleib an, verschied ich nicht,
als ich aus dem Schoß hervorkam? (Hiob 3,11)

Warum hast du mich aus dem Mutterleib hervorgezogen?
Wäre ich doch umgekommen, so hätte mich kein Auge gesehen! (Hiob 10,18).

Im „Großen Dankchoral” parodiert Brecht schließlich protestantische Choräle, um sein anarchisches und existentialistisches Lebensgefühl auszudrücken:

Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen!
Kommet zuhauf.

Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben!
Schauet hinan:
Es kommet nicht auf euch an
Und ihr könnt unbesorgt sterben.

Die Vierte Lektion der Hauspostille besteht aus „Psalmen”. Im Alten Testament trägt der junge König David seine Psalmen zur Laute und Flöte vor, während Brecht seine Psalmen selbst gern auf der Klampfe begleitete. Die Fünfte Lektion heißt „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen” und erinnert an die kurzen Andachten an die Verstorbenen im katholischen Ritus. Die „Abgestorbenen” allerdings sind eine zynische und nihilistische Verfremdung der Toten. Diese Lektion enthält den „Choral vom Manne Baal”. Hier greift Brecht noch weiter zurück, bis auf vorbiblische Tradition.

Baal ist ein vorisraelitischer semitischer Gott, dem in den assyrischen, babylonischen und kanaanitischen Kulten bis hin nach Ägypten geopfert wurde. Für Brecht ist Baal die Inkarnation wüster Sinnlichkeit und egoistischer Selbstverwirklichung. In den Chroniken und in den Büchern der Richter und Könige des Alten Testaments verdammen die Priester des Einen und Einzigen Gottes ihr Volk Israel, weil es immer wieder den Kulten des Baals und damit denen der umgebenden Völker verfällt:

Da wandten sich die Söhne Israels wieder ab und hurten den Baalim nach.

Brechts Choral beginnt:

Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal …

und endet:

Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal …

Wie im Lied „Von der Freundlichkeit der Welt” spannt Brecht den Bogen unserer Existenz von der Geburt bis zum Tod. Wie das Bild des Mutterschoßes, der großen Gebärerin, so entstammt auch das Bild der Erde, zu der wir wieder zurückkehren, dem Alten Testament. In der Schöpfungsgeschichte verkündet Gott dem gerade geschaffenen Adam (1.Mose3,19):

Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen,
bis du zurückkehrst zum Erdboden, denn von ihm bist du genommen.
Denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren!

Brechts expressionistische und existentialistische Phase endet jedoch bald. Spätestens in der „Dreigroschenoper”, die im Jahre 1928 uraufgeführt wird, überwindet er seine anarchischen, zynischen und nihilistischen Haltungen.