Wilhelm Busch – Die predigende Synagoge

Am 9. November 1938 war Reichtsprgromnacht.

Unter diesen ist mir besonders eindrücklich ein großes, totes und ausgebranntes Gebäude. Sooft ich daran vorbei­komme, fängt dies Haus an, mir eine Predigt zu halten. Und ich weiß, daß es eine ganze Nacht lang zu vielen hun­dert Menschen gepredigt hat. Dies seltsame, predigende Gebäude steht mitten in einer lauten Großstadt des Ruhrgebietes.

Hier muß einmal eine reiche jüdische Gemeinde gewesen sein, daß sie sich solch eine großartige Synagoge hat bau­en können. Es ist ein riesiger Kuppelbau aus grauem Na­turstein! Vor vielen Jahren habe ich den Bau einmal von innen angesehen. Die Pracht dort entsprach ganz dem wundervollen Äußeren. Man sah, daß ein großer Künstler dies Haus entworfen und gebaut hatte.

Dann kam jener schreckliche Tag, der für Jahrhunderte ein dunkler Fleck auf der Geschichte unseres Landes sein wird; jener Tag, da das deutsche Volk mit einem Male vergaß, daß es einen Luther, Kant, Bach, Goethe gehabt hat, da es mit einem riesigen Satz aus dem 20. Jahrhundert in das Mittelalter zurücksprang … Es raste der Pöbel; die jüdischen Geschäfte wurden ge­plündert, die Wohnungen der Juden demoliert. Unschul­dige getreten, erschlagen und erschossen … Ein wüster Haufe drang auch in die herrliche Synagoge und steckte sie in Brand. Was nur brennbar war, wurde ein Raub der Flammen. Aber am Ende stand noch der rie­sige, nun so kahle Kuppelbau. Die großen Steinquader hatten dem Feuer getrotzt.

Damals fing dies Gebäude an, peinlich zu werden. Es re­dete noch nicht. Aber in seiner toten Schweigsamkeit begann es, die Menschen zu beunruhigen. Die Lautspre­cher dröhnten von dem »deutschen Kulturwillen« – und da stand dies Haus! Über dem Portal konnte jeder es noch lesen: »Mein Haus soll ein Bethaus sein vor allen Völkern!« Da stand es mit seinen rauchgeschwärzten Mauern, sei­nen leeren Fensteröffnungen … während die Lautspre­cher verkündeten, wie nun deutsche Heere nach Rußland eingerückt seien, um die »deutsche Kultur« vorzutragen … Man sprach immer wieder davon, dies Haus müsse abge­rissen werden. Aber – es kam nicht dazu. Es war, als habe man den Mut verloren, noch einmal die Hand an dies stumme, riesige Gebäude zu legen.

Und die Synagoge schwieg – schwieg – als warte sie auf den Tag, da sie würde reden können.

Und der kam!

Dieser Tag fing in der Großstadt an wie alle anderen. Die Kaufleute gingen in ihre Geschäfte, die Hausfrauen hatten Wäsche oder standen in Schlangen vor den Läden, in de­nen die Waren schon knapp wurden; die Bergleute fuh­ren in die Tiefe, und andere kamen herauf … Es war wie immer. So verging der Tag. Es kam der Abend. Dunkel la­gen die Straßen. Alle Häuser waren verdunkelt, alle Lich­ter gelöscht. Es war ja Krieg, und schon war manche Bom­be über der Stadt gefallen.

Um 21 Uhr tönten die Sirenen. Die Menschen liefen in die Keller … Und dann kam der Schrecken! Der erste große Angriff mit »Bombenteppich« und »Flä­chenbränden«. Die Menschen in den Kellern spürten die furchtbare Hitze. Sie stürzten hinaus. Nein! Viele kamen nicht mehr ins Freie. Sie fanden die Zugänge verschüttet und verbrannten bei lebendigem Leibe …

Aber die herauskamen, entsetzten sich. Rings um die Syn­agoge waren enge, dicht besiedelte Straßen. Und nun stand alles in Flammen. Wohin man sich auch wandte, ­Feuer! Feuer! Dieser furchtbare Brand schaffte sich selbst den Sturm, der das Feuer brausend weitertrug. Die Menschen hüllten sich in nasse Tücher und machten sich auf, irgendwo Schutz zu suchen. Aber sie fanden die Straßenausgänge mit Trümmern versperrt. Der Rauch nahm ihnen den Atem. Da sank manch einer um und wur­de von stürzenden Mauern erschlagen, vom Rauch er­stickt, vom Feuer verschlungen.

Die sich durchschlugen, suchten mit vor Angst irren Augen nach einem Ort, der Schutz böte vor dem Feuer. Sie fan­den nur einen: die riesige, kahle, längst ausgebrannte Synagoge. Hunderte haben in jener schrecklichen Nacht dort Rettung gefunden … Da saßen sie, eng gedrängt und zitternd auf dem nackten Boden, während draußen der schauerliche Tod umging. Da saßen sie und konnten nicht weglaufen, als nun die Synagoge anfing zu predigen.

Es war eine schreckliche Predigt. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz: »Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spot­ten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.« Da war manch einer, der hatte an jenem Frühlingstag mit­gemacht, als man das Feuer an diese Synagoge legte. Und die anderen hatten neugierig zugesehen, hatten vielleicht gelacht. Sicher hatten sie geschwiegen. Aber – wer hatte an Gott gedacht, an Gott, der nicht schweigt?! Damals hatte das Feuer dies eine Gebäude verzehrt. Nun ging die Stadt im Feuer unter … Und ausgerechnet dies Gebäude war nun Zuflucht! Die Synagoge predigte. Und selbst der Verstockteste hat in jener Nacht des Grauens die Predigt gehört: »Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten … «

Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Unter den Flüchtlingen war einer, dem hielt die Synagoge eine be­sondere Predigt. Er war ein einfacher Mann, der einen kümmerlichen Lohn auf einer Kohlenzeche verdiente. Aber er gehörte zu den Leuten, von denen der Herr Jesus sagt, daß sie »reich sind in Gott«.

Dieser Mann saß unter dem bestürzten Volk und war we­der sehr verwundert noch unruhig. Verwundert war er nicht, weil er aus dem Wort Gottes längst wußte, daß dies Volk schrecklichen Gerichten entgegengehen mußte. Und unruhig war er nicht, weil er Frieden mit Gott hatte. So saß er nun in einer Ecke, nachdem er vielen Leuten zu­rechtgeholfen hatte. Er war müde. Aber schlafen konnte man ja nicht.

Und da fing die Synagoge an, ihm ihre besondere Predigt zu halten. Sie fragte: »Weißt du auch, warum ihr hier ge­borgen seid vor dem Feuer?« Und er antwortete: »Ja, weil hier das Feuer schon einmal getobt und alles, was brennbar war, verzehrt hat.« »Weißt du auch«, fragte die Synagoge, »daß es noch ein anderes und schrecklicheres Feuer gibt als das, vor dem ihr euch hier geborgen habt?« »Das weiß ich wohl«, sagte der Mann, »das ist das schreck­liche Feuer des Gerichtes und Zornes Gottes, das einmal entbrennen wird über alles ungöttliche und unheilige We­sen der Menschen.«

»Da weißt du ja schon viel!« sagte die Synagoge. »Aber meinst du, daß du dann auch eine Zuflucht finden wirst, wenn dies Feuer entbrennt? Meinst du, daß dann auch solch eine Stelle da sein wird, die Zuflucht bieten kann, weil das Feuer schon darüber ging?« Nun lächelte der Mann inmitten des erschrockenen und betrübten Volkes und sagte: »Oh, ich weiß, wo du hinaus­willst. Ja, es gibt einen einzigen Ort, über den das Feuer des Zornes Gottes schon ging, und der darum Zuflucht bietet: Das ist das Kreuz Jesu auf Golgatha.«

»Du hast recht!« sagte die Synagoge. »Sieh mich nur an! Wie sicher seid ihr in meinem Schoße, weil ich früher das Feuer erlitten habe. Und so ist man sicher unter dem Kreuze Jesu. Wie hat dort das Feuer gebrannt, als Jesus rief: ,Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlas­sen?’ – jetzt ist man in alle Ewigkeit dort sicher vor dem Gericht Gottes.«

Da freute sich der einfache Mann, daß er um diese ewige Zuflucht wußte. Dann legte er sich, so gut es bei dem Ge­dränge eben möglich war, zurecht und schlief nun doch ein – er ruhte friedlich und getröstet wie ein Kind am Herzen der Mutter.