Theologische Eigenart des Thomasevangeliums

Die Deutung der Logien ist schwierig, da der jeweilige Kontext fehlt, sie hängen also gewissermaßen „in der Luft“. Beispielsweise lautet das kürzeste Logion bloß:

„Werdet Vorübergehende!“

– Jesus nach Logion 42

In diesem Fehlen liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Evangelien des Neuen Testaments, bei denen die Worte Jesu in Dialoge und Rahmenhandlungen eingebettet sind.

Es lassen sich einige theologische Besonderheiten beschreiben:

  • Jesus erscheint als der Sohn des lebendigen Vaters, als der Offenbarer, der den Jüngern das Geheimnis seiner – und ihrer – Herkunft mitteilt. Die gegenwärtige Welt, das Diesseits wird negativ beurteilt: „Wer die Welt erkannt hat, der hat eine Leiche gefunden“ (Logion 56). Das Heil, die Verbindung mit Gottes Reich, tritt ein dank eines Erkenntnisvorgangs, indem Menschen sich als Gotteskinder verstehen; dadurch eint sich ihr Wesen mit ihrem im Himmel verbliebenen Urbild (Logion 84).
  • Das „Königreich“ („Reich des Vaters“, „Himmelreich“) ist ein Zentralbegriff des Thomasevangeliums. Dabei wird der Unterschied zu der Predigt Jesu in den Synoptikern deutlich: die eschatologische Ausrichtung auf die Zukunft fehlt fast völlig. Zwar ist durchaus in zukünftigem Sinn von „eingehen“ oder „finden“ die Rede, aber diese Aussagen hängen eng mit der Aussage zusammen, dass der Jünger aus dem Reich stammt (Logion 49). Wichtig scheint nur zu sein, dass das Reich gegenwärtig ist: „das Reich des Vaters ist schon ausgebreitet über die Erde, nur können es die Menschen nicht sehen“ (Logion 113).
  • Der Mensch ist, wenn auch blind in seinem Herzen (Logion 28), doch göttlichen Ursprungs (Logien 3, 50).
  • Es sind kaum Spuren einer Gemeinschaftsbildung zu erkennen; ekklesiologische Gedanken fehlen. Der Zugang zum „Reich“ wird den Einzelnen, vom Ruf Jesu Erreichten, zugesagt. Es sind die „Kleinen“, die „Einsamen“, die das „Reich“ und damit die „Ruhe“ erreichen.

Laut Einleitungssatz und Logion 1 will diese Sammlung von Aussprüchen eine Heilsbotschaft sein:

„Dies sind die geheimen Worte, die Jesus, der Lebendige, sprach, und Judas Thomas, der Zwilling, aufschrieb. Und er sprach: ‚Wer die Bedeutung dieser Worte versteht, wird den Tod nicht schmecken.‘“

Allerdings beschränkt sich diese Heilsbotschaft auf die Verkündigung Jesu. Dass Jesus für die Menschen lebte, für sie starb und auferstand, wird nicht erwähnt. Ebenso fehlen Angaben zur Taufe, die Ankündigung von Jesu Wiederkommen, Jüngstem Tag und alle Wunderberichte. Aber es gibt Bezugnahmen auf Jesus als Wundertäter: Logion 35 betont, zuerst müsse der Starke gebunden werden, und in Logion 106 geht es darum, einem Berg zu befehlen sich wegzuheben. Die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn wird dabei auf alle wirklichen Nachfolger Jesu ausgedehnt:

„Wenn ihr aus zweien eins macht, dann werdet ihr Söhne des Menschen. Und wenn ihr dann dem Berg befehlt, sich wegzuheben, so wird er verschwinden.“

Logion 106