Tacitus über die Juden

5 (1) Diese Kultbräuche, auf welche Weise auch immer eingeführt, werden durch ihr hohes Alter gerechtfertigt: die übrigen Einrichtungen, unsinnig und abstoßend, kamen zur Geltung eben wegen ihrer Abscheulichkeit. Denn überall waren es gerade die übelsten Elemente, die ihren Väterglauben autgaben und Tempelabgaben und Spenden dort zusammenhäuften; daher wuchs die Macht der Juden, und auch deshalb, weil unter ihnen unverbrüchliehe Treue waltet und hilfsbereites Mit eid, gegen alle anderen aber feindseliger Haß. (2) Abgesondert sind sie beim Essen, getrennt beim Schlafen, und obwohl ein der Sinnlichkeit ganz hingegebenes Volk, enthalten sie sich des Geschlechtsverkehrs mit fremdländischen Frauen; untereinander gilt ihnen nichts als unerlaubt. Die Sitte der Beschneidung haben sie eingeführt, um an diesem Unterscheidungsmerkmal erkannt zu werden. Alle, die zu ihrer Lebensform übertreten, halten sich an denselben Brauch, und nichts wird ihnen früher beigebracht, als die Güter zu verachten, ihr Vaterland zu vergessen, Eltern, Kinder, Brüder geringzuachten. (3) Dennoch kümmern sie sich um den Bevölkerungszuwachs; denn eines der nachgeborenen Kinder zu töten gilt als Frevel; die Seelen der im Krieg oder durch Hinrichtung Umgekommenen halten sie für unsterblich: daher ihre Lust zur Fortpflanzung und ihre Todesverachtung. Die Leichen begraben sie, anstatt sie zu verbrennen, und dies nach ägyptischer Sitte; bei ihnen gilt auch derselbe Totenkult und dieselbe Vorstellung von der Unterwelt; ganz anders aber ihr Bild von den Himmlischen. (4) Die Agypter verehren viele Tiere und zusarnmengesetzte Götterbilder; bei den Juden gibt es nur eine Erkenntnis im Geist, den Glauben an einen einzigen Gott. Als Gotteslästerer betrachten sie alle, die Götterbilder aus irdischem Stoff nach dem Ebenbild der Menschen schaffen; jenes höchste und ewige Wesen sei weder darstellbar noch vergänglich. Daher stellen sie in ihren Städten keine Götterbilder auf, schon gar nicht in den Tempeln. Eine solche Huldigung erweisen sie nicht den Königen, eine solche Ehre nicht den Caesaren. (5) Weil aber ihre Priester Musik mit Flötenspiel und Pauken machten, sich mit Efeu bekränzten, und weil man im Tempel einen goldenen Rebstock fand, glaubten einige, es werde Vater Liber verehrt, der Bezwinger des Orients, obwohl die Kultsatzungen keineswegs übereinstimmen; denn Liber stiftete festliche und fröhliche Bräuche, die Sitte der Juden ist widerwärtig und schäbig.
9 (1) Als erster Römer bezwang Gnaeus Pompeius die Juden und betrat den Tempel nach dem Recht des Siegers. Seither ist bekannt, daß drinnen kein Götterbild stehe, die Stätte leer und der Gebeimkult sinn- und zwecklos sei. Die Mauern von Hierosolyma wurden geschleift, der Tempel blieb erhalten. Als dann in der Zeit unserer Bürgerkriege diese Provinzen in die Gewalt des Marcus Antonius gekommen waren, bemächtigte sich der Partherprinz Pacorus Judäas; er wurde von Publius Ventidius getötet, die Parther über den Euphrat zurückgedrängt; die Juden unterwarfen sich Gaius Sosius. (2) Die Königsherrschaft wurde von Antonius dem Herodes übergeben, nach seinem Sieg erweiterte sie Augustus. Nach dem Tod des Herodes riß ein gewisser Simo, ohne auf die Verleihung durch den Caesar zu warten, die Königswürde an sich. Er wurde von Quinctilius Varus, dem Statthalter Syriens, bestraft, und über das gedemütigte Volk geboten die Söhne des Herodes, jeder über ein Drittel. Unter Tiberius herrschte Ruhe. Als sie dann von Gaius Caesar den Befehl erhielten, sein Standbild im Tempel aufzustellen, griffen sie lieber zu den Waffen; aber diesen Aufstand beendete der Tod des Caesars. (3) Nach dem Tod oder der Machtbeschränkung der Könige überließ Claudius die Provinz Judäa römischen Rittern und Freigelassenen, unter denen Antonius Felix mit aller Grausamkeit und Willkür Königsrecht in Sklavengesinnung ausübte. Er heiratete Drusilla, die Enkelin der Kleopatra und des Antonius, so daß Felix Gatte der Enkelin ebendieses Antonius und Claudius der Enkel war.

10 (1) Dennoch dauerte die Geduld der Juden bis zur Prokuratur des Gessius Florus: unter ihm brach der Krieg aus. Der Legat von Syrien, Cestius Gallus, der ihn zu unterdrücken versuchte, hatte mannigfache, meist unglückliche Schlachten zu bestehen. Als er eines naturlichen Todes oder aus Lebcnsüberdruß gestorben war, entsandte Nero den Vespasianus, der dank seines Glücks, seines Rufes und seiner ausgezeichneten Helfer innerhalb zweier Sommer das ganze Land und alle Städte außer Hierosolyma mit seinem siegreichen Heer fest in der Hand hielt. (2) Das nächste Jahr war dem Bürgerkrieg gewidmet und verging, was die Juden betraf, in Ruhe. Als der Friede in Italien errungen war, kehrten die auswärtigen Sorgen wieder. Es steigerte die Erbitterung, daß die Juden als einzige sich nicht gefügt hatten. Zugleich erschien es für alle Erfolge oder Rückschläge des neuen Prinzipates vorteilhaft, wenn Titus bei den Heeren bleibe.

Tacitus Historien 5, 3-5)