Die Kölner Philosophin Edith Düsing zählt zu den profiliertesten bekennenden Christen in der aktuellen deutschen Hochschullandschaft. Durch ihre Forschungen zur klassischen deutschen Philosophie oder zu Friedrich Nietzsche, dessen Christentumskritik sie eindringlich durchleuchtet hat, ist sie der Fachwelt bekannt geworden. Wir sprachen mit Frau Professor Düsing über ihre Sicht zum Verhältnis von christlichem Glauben und Philosophie.
AUFBRUCH: Gerade bei sehr gläubigen Christen trifft man immer wieder auf die Meinung, daß Wissenschaft und Philosophie auf der einen Seite, christlicher Glaube auf der anderen nicht zusammenpassen können. Was würden Sie als Philosophin und Christin dem entgegenhalten?
Prof. Düsing: Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich christliche Autoren wie Kierkegaard ebenso wie entschieden ungläubige Autoren und ihre philosophischen Texte, z.B. ‚Jahrbuch für kritische Aufklärung’, gelesen und miteinander verglichen, da ich der Sache auf den Grund gehen wollte, welche Argumente sie für oder gegen den christlichen Glauben anführen. Mein Ergebnis nach Jahrzehnten: Die kleineren Philosophen von Demokrit über Lukrez, Voltaire, Lamettrie, Feuerbach bis Sartre und Camus sind Atheisten, die die Welt aus sich selbst zu erklären suchen und eine autonome Materie als das Absolute anbeten. Der etwas größere Agnostiker Heidegger weiß in ‚Sein und Zeit’ eindrücklich zu enthüllen, daß wir ohne Gott in die Welt geworfen sind in heillose Angst, in eine „leere Erbarmungslosigkeit“. Alle großen Philosophen vor (Platon, Aristoteles) und nach der Geburt des Weltenheilandes sind Theisten (Augustinus, Thomas, Descartes, Leibniz, Kant, Hegel), also in ihrem Denken und Gemüt gottgläubig gewesen. Denn sie haben auf Grund des vorurteilslosen Ernstes, der Klarheit und logischen Konsequenz im Gebrauch ihrer von Gott geschenkten Vernunft – im Sinne von Römer 1 – das unsichtbare Wesen Gottes an seinen Werken erkannt und daß die sichtbare Welt aus der unsichtbaren hervorgeht (Hebräerbrief). Auch lehren sie, daß unser irdisches Leben eine uns geschenkte Bewährungs- und Prüfungszeit vor Gott sei und die menschliche Seele von Gott herkommt bzw. von ihm geschaffen und dazu gerufen ist, über allem weniger wichtigen anderen, was sie umtreibt, ängstigt oder fasziniert, Ihn zu suchen.
Gott fürchtet sich nicht vor unseren radikalen Fragen, ja er läßt sie zu und erduldet unsre Verachtung seiner Offenbarung und unsere Auflehnung dagegen, ihm gehorsam sein zu sollen. Er durchschaut die Beweggründe unserer Fluchtbewegung vor ihm, wenn wir wie Pilatus wegwerfend skeptisch fragen: Was ist Wahrheit? und Ihn, den Schöpfer des Alls verwerfen. – Die säkulare Wissenschaft arbeitet in ihren Arbeitshypothesen so, als ob es Gott nicht gäbe, also in einem methodischen Atheismus. Bemerkenswert ist, daß aber gerade unter den gegenwärtigen Physikern (- die Physik ist Krone der Naturwissenschaft, insofern sie im Vergleich mit anderen strengste Mathematisierung ihrer Forschung erlangt, -) eine Reihe tief gläubiger Forscher zu finden ist, die den Urknall, selbst wenn er stattgefunden haben sollte, als nicht hinreichend für die Erklärung des Daseins und Soseins aller Dinge einschätzen. Sir Isaac Newton suchte jedes Mal, wenn er den Namen Gottes auch nur nannte, eine Minute andächtigen Schweigens einzuhalten, so rühmt ihn I.Kant in seiner Pädagogikvorlesung als leuchtendes Vorbild, das Erzieher für die ihnen anvertraute Jugend verwenden sollen.
AUFBRUCH: Was haben unsere Wissenschaftskultur und möglicherweise auch die Philosophie dem Christentum zu verdanken? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der geschichtlichen Ausbreitung des christlichen Glaubens und dem Erwerb der Befähigung, Wissenschaft zu betreiben?
Prof. Düsing: Den einzigartigen Aufschwung in der Erforschung dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, des weiteren die Epoche der europäischen Aufklärung, die dazu ermutigt es zu wagen, – auch gegen die tradierte Autorität von Staat und Kirche – jeden Gedanken, der gedacht werden kann, auch zu denken; diese ungeheure Freiheit des Geistes ist in meiner Geschichtsauffassung selbst eine Frucht des Christentums und sie hat es bis heute nur in christianisierten Weltgegenden gegeben. Die geistigen Errungenschaften der großen Griechen Platon und Aristoteles fließen mit ein in die Philosophie des Abendlandes von Augustinus über Thomas, Descartes, Leibniz, Kant und Hegel. Dabei rühmt der Geschichtsschreiber Flavius Josephus die Juden als eine erstaunlich philosophische Nation, da sie lange Zeit vor den Griechen den Einen Gott erkannt und den Glauben nur an ihn gelehrt haben. Augustinus wiederum vertritt die Auffassung, Platons Weisheit sei von Rabbinern angeregt.
AUFBRUCH: Kann der christliche Glaube umgekehrt von der Philosophie denn auch etwas lernen – und wenn ja, was?
Prof. Düsing: Inhaltlich kann er nichts dazulernen, wohl aber in der Klarheit des sich selbst Verstehens und für die Erfüllung der im Hirtenbrief uns gesetzten Aufgabe, Rechenschaft vor der Welt abzulegen über die „Hoffnung, die in uns ist“ (1. Petrus). So hat die alte Kirche, das Feld der sog. „Apologetik“ eröffnend, gegen Irrlehrer philosophisches Argumentieren als Instrument verwendet, um den biblischen Glauben gegen Mißverständnisse von innen zu festigen und Angriffe von außen, aus der heidnischen Umwelt, abzuwehren. Ein Beispiel ist der Zwist zwischen Athanasius und Arius; gegen Arius, der die Gottgleichkeit Jesu bestritt, hat die Kirche – unter Zuhilfenahme von Platons Unterscheidung zwischen Wesen (ousia) und Erscheinung (phainomenon) – auf einem allgemeinen Konzil verbindlich festgelegt, daß Jesus Christus von wesensgleicher Natur mit dem Vater ist. Das bedeutet, Platons philosophische Sicht, die auf den Hebräerbrief vorausweist und die besagt: Alles Wesentliche ist für leibliche Augen unsichtbar, verhalf der Kirche Jesu Christi zu einer begrifflich deutlicheren Klarheitsfindung dessen, was sie selbst glaubt und was sie zum Heil der Sünder verkündigen soll, und das in Abgrenzung gegen Mißverständnisse, wer Jesus sei, und gegen mögliche Verkleinerungen des Evangeliums.
AUFBRUCH: Seit der Aufklärung haben sich in Europa nun freilich christlicher Glaube und Wissenschaft auseinandergelebt. Wie würden Sie dieses Phänomen erklären? Handelt es sich um ein bloßes Mißverständnis oder liegen die Wurzeln tiefer?
Prof. Düsing: Aufklärung ist eine Epochen- und Standpunkt-Bezeichnung und wird oft vereinfachend als Position einer sich selbst ermächtigenden Vernunft (Ratio) verstanden, die sich selbst absolut setzt und damit jeden möglichen Anspruch auf eine göttliche Offenbarung bestreitet. Differenzierend ist zu sagen: Aufklärung erhebt zwar sehr wohl die Vernunft zur letzten Prüfungsinstanz für alle Fragen des Denkens, Glaubens und Handelns in Kritik jeglicher Heteronomie (Fremdbestimmung) v.a. durch institutionell verankerte Autoritäten wie Staat und Kirche; jedoch gelangt diese „Vernunft“ zu überaus verschiedenartigen Gedankengebäuden. Die seit dem 16./17. Jahrhundert von England (Bacon, Cherbury, Locke) ausgehende, dann in Frankreich (Voltaire, die Enzyklopädisten, Rousseau) Fuß fassende Aufklärung zeigt in diesen Ländern deutlich skeptizistische (Hume), religionskritisch-freidenkerische (Collins) sowie materialistische und atheistische Grundzüge (Helvetius, Holbach, Lamettrie), während die deutsche Aufklärung, – meiner Vermutung nach durch den Segen, der von Luthers Reformation ausgegangen ist, – im 18. Jahrhundert weit gemäßigtere Denkgestalten hinsichtlich der Kritik und Bewahrung überlieferter christlich-abendländischer Metaphysiktradition besitzt. Das Spektrum der deutschen Aufklärung reicht vom Deismus (Reimarus) bis zum entschiedenen Theismus (Wolff, Lessing, Mendelsson, Kant). In seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ (1784) erklärt Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Ak. Ausg. VIII, 35)
Kant kann als Vollender, zugleich aber auch als Überwinder der Aufklärung angesehen werden. Denn er hat das aufklärerische Vertrauen in die unbegrenzte Leistungskraft der Vernunft zweifach erschüttert: zum einen durch seine Vernunftkritik, in der er die Erklärungsreichweite menschlicher Erkenntnis auf ein Diesseits der Grenze aller möglichen Erfahrung einschränkt, und zum anderen durch seine Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur, womit er das Skandalon christlicher Erbsündenlehre philosophisch aufnimmt und gegen die humanistische Annahme (Rousseau) einer ursprünglichen, bloß durch Kultur und gesellschaftliche Verhältnisse verdorbenen Güte des Menschen ins Feld führt. Hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung bezieht Kant die (aus seiner Systematik konsequent folgende) subtile Stellung: Sowenig wie die Vernunft positiv eine objektive Aussage, d.h. ein Erkenntnisurteil über eine vielleicht geschehene göttliche Offenbarung treffen kann, ebensowenig vermag Vernunft die prinzipielle Möglichkeit oder die historische Wirklichkeit solcher Offenbarung zu bestreiten. Diese Kantische Bescheidenheit der Vernunft ging im 19. Jahrhundert seit Feuerbach, D.F.Strauß, Marx, A.Comte verloren, und atheistische Systeme maßen sich seither erfolgreich an, die Wahrheit des christlichen Glaubens widerlegt zu haben.
AUFBRUCH: Sie haben sich ausführlich mit dem Verhältnis eines der schärfsten Kritiker des Christentums zum christlichen Glauben, mit Friedrich Nietzsche, auseinandergesetzt. Können Sie das Ergebnis Ihrer Studien kurz zusammenfassen?
Prof. Düsing: Der Nietzsche-Kult um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert erlebt 100 Jahre später eine ungeahnte Wiederkehr. Kein Autor wird so häufig zitiert wie er. Er wird aufgerufen als Bürge für den heute zur Mode gewordenen antichristlichen Atheismus, als dessen Propagandist er gilt. So dient er posthum als Fluchthelfer der abendländischen Menschheit vor dem Gott der Bibel. Dies aber, so lautet ein Forschungsergebnis meines Buches (Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, Finkverlag, 2. Aufl. 2007) ist ein Mißbrauch von Nietzsches Philosophie, da einzelne Worte wie das vom ‚Tod Gottes’ aus dem Sinnzusammenhang herausgerissen und plakativ verwendet werden. Nietzsche war in Wahrheit ein Gottesgequälter (X. Tilliette), der einen lebenslangen Kampf mit Gott geführt hat. Von früher Kindheit an, seit dem Tod seines Vaters, des gläubigen Pastors, war der Philosoph von der Theodizeefrage, der Hiobsfrage nach Gottes Güte und Gerechtigkeit, überwältigt. Die Theodizeefrage kann niemand durch Vernunft lösen. Und Nietzsche wußte als guter Kantianer ohnehin, daß niemand die Nichtexistenz Gottes beweisen könne.
Die Entfremdung vom vormaligen Glauben an den wahrhaftig auferstandenen Sohn Gottes und Weltenheiland Jesus Christus, den Friedrich Nietzsche als Kind innig geliebt und dem er bis zur Abiturszeit „in tiefster Herzenstiefe Altäre feierlich geweiht“ hat, macht die Tragik in Nietzsches Seelen- und Denkschicksal aus. Dies Schicksal faßt er selbst in der Mitte seines Lebens und zur Zeit der Niederschrift seiner freigeistigen Schriften im Gedicht „Vereinsamt“ in die Selbstdeutung zusammen: „Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends halt“! Von der Häßlichkeit und Hoffnungslosigkeit des Daseins ohne Gott in der Welt, das er analysiert, und von der Abgründigkeit seiner eigenen radikal kritischen Fragen ist zuerst er selbst tödlich verwundet. Intellektuelle Gründe für seinen Gottesverlust sind u.a. die Bibelkritik des D.F. Strauß (Vorläufer von Bultmann in der Entmythologisierung des Neuen Testaments) und sein ‚Darwin-Schock’, die „entsetzlichen Konsequenzen des Darwinismus“, die das Gottesbild für ihn dämonisch unterwandern, falls der Schöpfergott nach der Methode verfährt, höheres Leben durch millionenfaches Sterben zu erwirken.
Was ihn von dem zu unserer Zeit überall unausgesprochen oder offensiv vollbrachten Sprung von der Ehrfurcht vor Gott zum nihilistischen „Nichts ist wahr, – alles ist erlaubt“! unendlich trennt, ist zum einen, daß er am Verlust Gottes, an „Gottes Tod“ oder daran, daß das Schweigen Gottes auf ihm lastete, selbst innerlich mitsterbend, geistig, seelisch und leiblich zerbrochen ist, und zum andern daß er, was kaum eine Nietzschedeutung beachtet, mit hohem Ernst vor das Alles entscheidende Entweder/ Oder stellt: persönlicher Schöpfergott oder anonymes Atomengewirr des Weltalls, worin der Mensch seine Würde als Ebenbild Gottes begraben muß. Und vor diese Alternative stellt er jeden seiner Leser, der mit wachem Herzen und Geist liest und keinen seiner aus abgrundtiefer Verzweiflung geborenen Sätze als Dogma annimmt. Wer Nietzsche wörtlich nimmt, so Jaspers treffend, der ist verloren. Zwei Beispiele solcher nicht selten mit hohem Pathos zitierten Sätze aus dem Zarathustra lauten: „Gott ist tot – es lebe der Übermensch!“ und, was hochaktuell ist im Hinblick auf unsere Ökologiebewegungen: An der „Erde zu freveln“, ist der einzige Frevel! Wenn das Verbot der Gotteslästerung dahinfällt, wird die Erde als das neue innerweltliche Heilige empfunden.
In seinem Denkweg hat Nietzsche die Chaoshypothese, wonach alles aus blindem Zufall entstanden sei, bis zu Ende durchdacht und sich – so wie Ödipus in der antiken Tragödie des Sophokles sich selbst als den gesuchten Königsmörder entdecken und verfolgen muß – als mitschuldig am Tod, ja an der Ermordung Gottes und als Antichristen angeprangert. „Gott ist tot … wir erwachen als Mörder“! Im Unterschied zu denen, die heute Nietzsche-Texte als Weltanschauungsersatz nachbeten, litt der Autor (außer in den letzten Tagen vor seinem psychischen Zusammenbruch) nicht an Selbstanbetung. Ihm lag an sich selbst wenig, an der grausamen Wahrheit alles, die er – unter der Maxime: „weg mit den schönen Illusionen“! – zur Wahrung der für ihn kardinalen Tugend intellektueller Redlichkeit um jeden Preis suchte.
Mit dem erschütternden Wort vom ‘Tod Gottes’, das oft als griffige Parole eines dogmatischen Atheismus mißbraucht wird, hat Nietzsche sich aber gerade nicht angemaßt, über Dasein oder Nichtdasein Gottes befinden zu können. Er hat vielmehr das Absterben des Gottesglaubens und die Heraufkunft des Atheismus als Massenphänomen im 19. Jahrhundert vorausverkündet. Er wagte, die Konsequenzen zu Ende zu denken, die in der Entchristlichung Europas liegen. Was sich verborgen vor der Sehkraft vieler Augen, besonders von Fortschrittsgläubigen, ereignet, nämlich die tausendfache Ausstrahlung eines Verlorenen, ist Grund für Nietzsches Kassandra-Wehe-Ruf. Dem Sog des verlorenen Glaubens spürt Nietzsche im religiösen, ethischen, psychologischen, sozialen, politischen Bereich nach. Sein Denken bewegt sich um diesen Mittelpunkt der Klärung des Gottesverlustes, in dessen Gefolge die Vereisung menschlicher Beziehungen steht und die Vereinsamung der Individuen, die dem Lockruf „kein Hirt und Eine Herde“, – wie es im Zarathustra heißt, und damit der Gesellschaft, die als Erlöserin ausgerufen wird, widerstehen (Markus 6, 39).
Die Verlustbilanz lautet für Nietzsche: Die bisher höchsten Dinge, das ist der biblisch fundierte Gottesglaube und die Religion des Kreuzes Christi, haben sich in unglaubwürdige Mythen verwandelt, in Geschichten und „Märchen“, die allein noch für Kinder Wahrheit darstellen. Es ist eine „furchtbare (!) Neuigkeit“, so erklärt Nietzsche, daß der vormals geglaubte Gott ‘tot’ ist, das jenseitige Leben „weg“ ist; man hat damit auch dem diesseitigen Leben „die Pointe genommen“; denn in unseren Erlebnissen kommt „nicht mehr eine himmlische Güte und Erziehung“ zum Ausdruck, und es herrscht keine Furcht mehr vor den „Folgen der Gottlosigkeit“ (KSA 11: 626f, 621, 425). Zuerst spielt dies Verlieren der „höchsten Dinge“ sich im Bewußtsein Einzelner ab, bald aber wird der Verlust des Glaubens „ruchbar“ unter allen, und es folgt in Nietzsches Diagnose unabwendbar und breitenwirksam: das Aufhören von Ehrfurcht und Achtung, von Autorität und Vertrauen, es folgt dann das Leben nach dem Augenblick, nach dem „gröbsten Ziele, nach dem Sichtbarsten“ und schließlich ein Experimentieren, ein, so lautet die Eskalation, Gefühl der Unverantwortlichkeit, ja „die Lust an der Anarchie!“ (Nach Bakunin ist das Zerstören eine aufbauende Lust.) Eine gemeinere Gattung Mensch, das ist Platons Ochlokratie, bekommt in Nietzsches ahnender Vorausschau das Regiment: die Masse maßt sich die Herrschschaft an; ihr müssen anders denkende Einzelne, – gehen sie nicht, wie der Zarathustra persifliert, freiwillig ins Irrenhaus, – sich anpassen. Überschauen wir überhaupt schon, fragt Nietzsche in einer Sequenz von Fragen, die Folgelast der sich anbahnenden „Vernichtung der Religion und Metaphysik“, der „Noblesse und Individual-Bedeutung“?! Wehe denen, die sich nach Abflauen des „Rausches der Anarchie“ der Masse als ihre Heilande anzubieten suchen (KSA 9, 200f). Die meisten wollen nur eine „fessellose Freiheit“ für sich (KSA 1, 698). Die gefährliche neue Forderung nach Freigabe des Selbstexperiments Mensch ist für Nietzsche mit Darwins Namen verknüpft. Er spricht von einer „ungeheuren Experimentierstätte“, die er für schwer abwendbar hält (KSA 13, 408f).
Schlüssel zum Verstehen von Nietzsches Philosophie ist ein Wort, das er im Zusammenhang wochenlanger Gespräche zum Verlust des Glaubens Lou Salomé ins Tagebuch geschrieben hat: „Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht vor und muß es entweder leugnen oder – schaffen“ (KSA 10, 32). Nietzsches ganze Entwicklung, so L. Salomé, ging davon aus, daß er den Glauben verloren hatte, also von der ‘Emotion über den Tod Gottes’, die bis in das letzte Werk hineinklingt. Die Suche aber nach einem Ersatz für den verlorenen Gott in verschiedenen Formen der Selbstvergottung ist die Geschichte seines Geistes, Werkes und schließlichen Zusammenbruchs. Nietzsche hat Lou von Salomé gestanden, welche Qual er um den verlorenen Gott ausgestanden hat. Als tragischen Konflikt in Nietzsches Leben und Denken bestimmt sie den Konflikt, Gottes zu bedürfen und dennoch Gott zu leugnen. Er sucht gerade das Schmerzheischende im Erkennen, indem er sich zwingt, emotional bedrückende Wahrheiten, das ist zentral Strauß’ Bibelkritik und Darwins Evolutionshypothese, intellektuell anzuerkennen.
Die gelungenste säkulare Prophetie über den im zwanzigsten Jahrhundert drohenden sittlichen Verfall in Richtung eines praktizierten Nihilismus findet sich in der hintersinnig Fröhlichen Wissenschaft. Nietzsche schildert seine denkerische Vision einer ungeheuren Logik von Schrecken: „Das größte neuere Ereignis – daß ‘Gott tot ist’, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsere alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, ‘älter’ scheinen.“ Wer weiß jetzt schon, „was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hinein-gewachsen war: zum Beispiel unsere ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat…?“ (FW 343) Nietzsches schwerwiegendes und ahnungsvolles Exempel ist das Gebot: „Du sollst nicht töten!“ im Gesetz des Moses. „Die christliche Moral ist ein Befehl aus dem Jenseits“. „Naivität, als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt.“ (KSA 12: 551, 148) „Wir Europäer befinden uns im Augenblick einer ungeheuren Trümmerwelt, wo einiges noch hochragt, wo vieles morsch und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt“: Vor allem die Kirche ist Stätte „des Untergangs. Wir sehen die religiöse Gesellschaft des Christentums bis in die Fundamente hinein erschüttert“ (FW 358). Kirchen, die Jesu Auferstehung leugnen, nennt Nietzsche Grüfte Gottes, wo der Leichnam des toten Gottes, des Gottmenschen Jesus zur Anbetung dargeboten wird.
In persönlichem Klang ertönt in Die Fröhliche Wissenschaft das verlorene Glaubensleben als ein schmerzlich Unwiederbringliches und insgeheim Ersehntes. Während er immer weiter fortgeht vom christlichen Ursprung, der ihn trug, verfaßt er eine Hymne auf das Gebet, wenn man nur den Seufzer: „nie wieder“ in den Jubel: „ja“ umwandelt. Die freigeistige These, die das Beten als unmöglich diskreditiert, entspricht der Logik des freigeistigen Verstandes, die altvertraute These zum Betendürfen entspricht der Logik des Herzens, die als ein Schmerz des verlorenen Glaubens ex negativo durchklingt. „Excelsior! – ‘Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehenzubleiben und deine Gedanken abzuschirren“; „- du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupt und Gluten in seinem Herzen trägt – es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat“ (FW 285). Der sich alles Beten versagt, charakterisiert sich dabei selbst als den Menschen der großen Entsagung, der nicht weiß, wer ihm die Kraft dazu geben wird. Das Postulat vom Dasein Gottes, ja des guten, allweisen und allmächtigen Vatergottes liegt grenzenlos nahe, aber Nietzsche erlegt sich, wie stets, herben Verzicht auf. Gottes gnädige Ergänzung der eigenen Mangelhaftigkeit entbehren zu müssen, nennt er „ohne geheime Beihülfe – ohne Dankbarkeit“ sein; er ruft wehklagend: „welche Verarmung!“ Du wirst „Alles als das ewig Unvollkommene auf deinen Rücken nehmen“ müssen! (KSA 14, 264) –
Nietzsches Fragen, in denen die Suche nach Wahrhaftigkeit ihn verzehrt, gelten dem überall drohenden nichts mehr Glauben-, Hoffen- und Liebenkönnen und einer Überwindung dieser Trostlosigkeit. In ihrer tiefestgründigen Gestalt lauten sie: Gibt es eine entwurzeltere Unruhe als die „Unruhe der Ideallosigkeit“? -, gibt es ein tieferes Leid als das „Leiden am Mangel der großen Liebe“? Sie sind beantwortbar: Jesus heißt Er, durch dessen „Wunden wir geheilt sind“ (Jesaja 53, 5). www.gemeindenetzwerk.org/?p=6369