Die letzte Erzählung, die Franz Kafka zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, heißt „Ein Hungerkünstler 1“. Dieser Hungerkünstler ist eine seltsame Gestalt. Auf Jahrmärkten hat er große Auftritte gehabt und große Zeiten erlebt. Die sind jetzt vorbei. Mit dem Hunger leben, mit dem Mangel umgehen zu können, ist uninteressant geworden. Der Wohlstand ist ausgebrochen, die Massen rennen im Zirkus achtlos am Hungerkünstler vorbei.
Der Mann mit seiner Kunst, den Hunger wachzuhalten, wird vergessen.
Man entdeckt ihn eines Tages zufällig beim Aufräumen in seinem Hungerkäfig. Er hungert noch immer – und die Leute denken, er wolle sich nur interessant machen. Erst im Zwiegespräch kommt heraus, was hinter seiner eigentümlichen Kunst des Verzichtes steckt:
Nichts von Geltungssucht, nichts von Wichtigtuerei! Er hat gar keine andere Wahl: “…weil ich hungern muss; ich kann nicht anders!”, sagte der Hungerkünstler.
Warum kannst du nicht anders?“
„Weil ich“, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge;
„…weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie Du und alle.“
Und Kafka fügt hinzu: “Das waren seine letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiter hungere.”
Es gehört zu unserem Wesen als Menschen, dass nichts Endliches unseren Hunger und Durst nach Leben ganz stillen kann. Zwar meinen wir manchmal, wenn ich dieses oder jenes bekomme, dann bin ich zufrieden, dann bin ich glücklich, dann brauche ich nichts mehr weiter. Doch so ist es nicht. Die Sehnsucht, die Gott in uns hineingelegt hat, ist auf diese Weise nicht zu befrieden. Nur der unendliche Gott vermag diese Sehnsucht letztendlich zu stillen: Er, der Wasser des Lebens (Johannes 4,14), Brot des Lebens (Johannes 6,48) und eine alle dämonischen Mächte sprengende Liebe schenken kann.
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird niemals dürsten.
Johannes 6.35
- Hungerkünstler waren Schausteller, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa als öffentliche Attraktion über einen längeren Zeitraum fasteten; das Eintrittsgeld der Besucher war die Gage des Hungernden. Die bekanntesten dieser Schausteller veranstalteten regelrechte Tourneen quer durch Europa und erlangten auf Grund der Berichterstattung in den Zeitungen größere Popularität. Ende der 1920er Jahre ließ das Interesse am Schauhungern jedoch deutlich nach. ↩︎