Was für das Christentum die vier Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes waren, das waren für den Augustus-Kult drei der größten antiken Schriftsteller überhaupt: Horaz, Vergil und, eher auf eigene Rechnung als im kaiserlichen Auftrag, Ovid (Markus Spieker – Jesus eine Weltgeschichte S. 144).
Horaz war zwei Jahre jünger als Augustus und hatte sich aus einfachen Verhältnissen an die Spitze der literarischen Szene hochgearbeitet. Entsprechend groß waren sein Erfolgshunger und seine Genussfreude. Sein Motto «carpe diem» nahm er sich selbst zu Herzen, hatte viele sexuelle Affären, mit Frauen genauso wie mit pubertierenden Jungen. Der Historiker Sueton hielt ihn für sexsüchtig.
Augustus beauftragte Horaz, eine Hymne für das größte Event des ganzen Jahrhunderts zu dichten: die sogenannte «Säkularfeier». Dieses gigantische Fest wurde von den Römern nur alle hundertzehn Jahre veranstaltet – jeweils zum Beginn einer neuen Epoche.
Im Jahr 17 vor Christus nutzte Augustus die Säkularfeier, um ganz offiziell ein Goldenes Zeitalter auszurufen. Bei der Eröffnungsprozession ging er vorneweg, ihm folgten die Konsuln, die Priester und schließlich ein riesiger Kinderchor. 27 Jungen und 27 Mädchen sangen, ganz in Weiß gekleidet, die Verse, die Horaz für den feierlichen Anlass gedichtet hatte. Adressiert war der Hymnus an Augustus. «Deine Zeit gab dem Land die Fruchtbarkeit zurück», jubelt der Chor dem ersten Mann im Staat zu.
Nach der Zeremonie ging die mehrtägige Party los – mit spektakulären Wagenrennen, massenhaften Gladiatorenkämpfen und allen möglichen theatralischen Showeinlagen. Es war die größte Show, die die Welt je gesehen hatte.
Zur selben Zeit wurde das vermutlich größte literarische Werk der römischen Antike veröffentlicht, die «Äneis». Der Autor Vergil war bereits im Jahr 19 vor Christus gestorben. Sein episches Gedicht über den römischen Gründungshelden wurde posthum herausgegeben. Zehn Jahre hatte Vergil an dem Text gearbeitet, den Augustus bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Vergil sollte Geschichtsklitterung auf höchstem Niveau betreiben. Und das gelang ihm auch. Bald kannte jeder halbwegs gebildete Römer die «Äneis» und deren stark geschönte Version der eigenen Vergangenheit.
Bisher waren die Römer davon ausgegangen, dass ihre Geschichte mit den beiden Zwillingsbrüdern Romulus und Remus begonnen hatte. Die Legende um die beiden Söhne des Kriegsgottes Mars und einer Priesterin warf allerdings kein sonderlich günstiges Licht auf die Römer. Die Brüder waren ausgesetzt und von einer Wölfin erzogen worden. Romulus brachte seinen Bruder schließlich um, so wie in der jüdischen Urgeschichte Kain den Abel, mit dem Unterschied, dass Romulus nicht als Bösewicht, sondern als Held gefeiert wurde. Wölfisch verhielt sich Romulus auch gegenüber Frauen. Weil er und seine Kampfgefährten sich fortpflanzen wollten, entführten sie die Frauen eines benachbarten Stammes, die Sabinerinnen. Am Anfang der römischen Geschichte standen somit Mord, Raub, Vergewaltigung.
Das konnte so nicht stehengelassen werden.
In der «Äneis» wird der Anfang der römischen Geschichte ein paar Jahrhunderte vordatiert. Äneas, ein Urahn von Romulus und Remus, ist Sohn der Liebesgöttin Venus und des Königs von Troja. Er überlebt die Vernichtung seiner Stadt durch die Griechen und landet schließlich in Italien, das für ihn und die mit ihm Geflüchteten zum Gelobten Land wird. Seine lange Abenteuerreise nach Italien hat viele Parallelen zu den Irrfahrten des Odysseus. Allerdings verhält sich Äneas weit weniger schlitzohrig als der griechische Held, sondern eher pflichtbewusst und geradeheraus.
«Von Waffen erzähle ich und dem Mann», beginnt Vergil sein Epos. Es endet damit, dass Äneas seinen Todfeind Turnus im Zweikampf besiegt. Als der Gegner wehrlos vor ihm liegt und auf Gnade hofft, kann Äneas sich nicht dazu bringen, ihm zu vergeben. Er bohrt ihm sein Schwert durch die Brust und schickt Turnus damit ins Totenreich. «Voll Unmut fährt er hinab zu den Schatten», endet das Werk.
Das tödliche Finale passt zum römischen Selbstverständnis. Am Ende zählt nur der Sieg. Der Preis, den der Unterlegene zu zahlen hat, ist oft der Tod. Ob in einem Mythos oder im wirklichen Leben: Die Römer sehen sich als Vollstreckungsgehilfen des mitleidlosen Schicksals. Sich selbst sehen die Römer vor allem zu einem berufen: zum Herrschen.
Markus Spieker – Jesus eine Weltgeschichte S. 144