Ich riss die Haustür auf, und da stand Karel. Neben ihm sah ich eine junge Frau. Sie lächelte mich an. Ich bemerkte den Hut mit der wippenden Feder, den Hermelinkragen, die weiß behandschuhte Hand, die auf seinem Arm ruhte. Dann schien sich das Bild zu verwischen, denn Karel sagte: »Corrie, ich möchte dir meine Braut vorstellen.« Ich habe bestimmt etwas geantwortet. Ich habe die beiden in Tante Jans’ Vorderzimmer geführt, das uns jetzt als Salon diente. Ich erinnere mich noch, wie die Meinen mir zu Hilfe kamen, sprachen, Hände schüttelten, Mäntel abnahmen, Stühle holten, damit ich nichts zu tun oder zu sagen brauchte. Mama übertraf sogar ihren eigenen Rekord im Kaffeekochen. Tante Anna reichte Kekse herum. Betsie sprach mit der jungen Frau über Wintermoden, und Vater zog sich mit Karel in eine Ecke zurück und begann mit ihm ein politisches Gespräch. Was er zu der Nachricht sage, dass Präsident Wilson amerikanische Truppen nach Frankreich schicke … Irgendwie verging die halbe Stunde. Irgendwie gelang es mir, ihre und dann Karels Hand zu drücken und den beiden alles Gute zu wünschen. Betsie führte sie zur Haustür hinunter. Ehe sie sich schloss, rannte ich die Treppe zu meinem eigenen Zimmer unterm Dach hinauf, um mich dort ausweinen zu können. Später hörte ich Vaters Schritte auf der Treppe. Einen Augenblick war ich wieder das kleine Mädchen, das darauf wartete, dass er ihm die Bettdecke glattstrich. Aber dies war ein Schmerz, den so etwas nicht stillen konnte, und plötzlich hatte ich Angst vor dem, was Vater sagen würde, hatte Angst, er könne sagen: »Du wirst bald einen anderen finden«, und dass danach diese Unwahrheit ewig zwischen uns stehen würde, denn in meinem tiefsten Inneren wusste ich bereits, dass weder bald noch je ein anderer kommen würde. Mit Vater kam der süße Zigarrenduft ins Zimmer. Und natürlich sagte er nicht die falschen, törichten Worte. »Corrie«, begann er stattdessen, »weißt du, was so sehr wehtut? Liebe. Liebe ist die stärkste Macht in der Welt, und wenn ihr der Weg versperrt wird, bedeutet das Schmerz. Wenn das geschieht, können wir zweierlei tun. Wir können die Liebe töten, damit sie nicht mehr wehtut. Aber dann stirbt natürlich auch ein Teil von uns. Oder aber, Corrie, wir können Gott bitten, der Liebe einen anderen Weg zu öffnen. Gott liebt Karel – sogar noch mehr, als du ihn liebst –, und wenn du Gott bittest, wird er dir seine Liebe für diesen Mann schenken, eine Liebe, die nichts hemmen, nichts zerstören kann. Wann immer wir nicht auf die alte menschliche Weise lieben können, kann Gott uns die vollkommene schenken.« Ich wusste nicht, als ich Vater die Treppe wieder hinuntergehen hörte, dass er mir mehr als den Schlüssel für diesen schweren Augenblick gegeben hatte. Ich wusste nicht, dass er mir das Geheimnis in die Hände gelegt hatte, das viel dunklere Räume als diesen öffnen würde – Orte, wo nichts war, was man auf menschliche Weise lieben konnte. Ich war in dem, was Liebe betraf, noch im Kindergarten. Ich musste darum mein Gefühl für Karel aufgeben, ohne auf die Freude und das Wunder zu verzichten, die mit ihm gewachsen waren, und so sprach ich flüsternd, als ich dort auf meinem Bett lag, das gewaltige Gebet: »Herr, ich gebe dir, was ich für Karel empfinde, und alle meine Gedanken über unsere Zukunft – ach, du weißt! Du weißt alles. Gib mir dafür, wie du Karel siehst. Hilf mir, ihn so zu lieben. So stark.« Und noch während ich die Worte sprach, schlief ich ein.
Boom, Corrie ten. Die Zuflucht: Corrie ten Boom erzählt aus ihrem Leben 1892-1945 (German Edition) (S.58-59). SCM Hänssler. Kindle-Version.