Franz Werfel – König Josia, das große Rechten

König Josia hatte die Götzen entfernt aus dem Land Israel. Und doch hat er den Krieg gegen Ägypten und deren Götter verloren. Schwer verwundet wird er aus der Schlacht nach Jerusalem gebracht. Es beginnt der Todeskampf des Königs. Oder vielmehr der Kampf des Königs mit Gott.

Als der König mit Jirmijah (dem Prophet Jeremia) allein war, holte er vorsichtig Atem, immer und immer wieder so tief und gut es ging, um Kraft zu sammeln für die Gewalt seines großen Rechtens. »Ich habe den Bund gehalten … Er hat den Bund gebrochen …« Der Verwundete sprach mit schwerer Zunge wie ein Trunkener. Auch nannte er Jirmijah nicht mehr bei seinem Namen, sondern »Anathot«, mit dem Namen seiner Vaterstadt. Vielleicht hatte er vergessen, wie Jirmijah hieß, vielleicht genügte ihm ein einzelner Personenname nicht mehr zur Zeugenschaft seines Rechtens. »Er hat den Bund gebrochen … Sprich, Anathot, in seinem Namen … Denn zu dir kommt er im Laut und im Gesicht … Was hast du zu sagen, Herr …« Jirmijah wich aus: »Mein König sollte nicht sprechen … Mein König sollte schlafen, damit er gesund wird …« Josijah versuchte sich zornig aufzustemmen: »Keine Zeit für Torheiten, Adonai … Steh Rede, Anathot … Im Frieden wirst du dahinfahren, hast du gesprochen zu mir, durch der Seherin Mund … Im Frieden, und kein Unglück wirst du sehen … Wenn ich meine Sünde weiß … Wenn ich meine Schuld kenne … Ja, dann will ich in Frieden dahinfahren … Wenn ich aber meine Sünde nicht weiß, wenn ich meine Schuld nicht kenne, wie könnte ich dann in Frieden …«

Der Atem verließ Josijah. Er begann kurz und flach zu keuchen. Jirmijah preßte seine Hand. Nach einiger Zeit gewann der König wieder die Kräfte zurück: »Ich spreche zu dir, Anathot … Ich spreche zu dir, Adonai … Warum hast du mir deine Lehre gegeben, wenn du vorhattest, mich zu verwerfen? … Ich habe deine Lehre nicht verworfen … Ich habe sie beschworen an der Säule des Bundes … Ich habe das große Passah gehalten mit dreißigtausend Stieren und Lämmern und Widdern und Farren und Jährlingen zum Brandopfer … Ich habe deine Lehre vollstreckt. Im Lande überall … Die Höhen … die grünen Bäume gesäubert und umgehauen … Bei Tag und Nacht … für dich gewirkt … Bestreut die Altäre Baals mit Totengebein und Asche … Und du … und du … Was hast du getan? … Sprich, Adonai … durch Anathot!«

Der Sprecher des Herrn, wie war er vor diesem Rechten zum Schweiger des Herrn geworden! Ja, dieses Rechten drang mit scharfer Schneide in seine Seele, und er rechtete und haderte mit. Wahrlich, warum hatte der Blitz des Herrn diesen König getroffen, der vor allen Davidsöhnen der Inbegriff der Treue war? Josijah fiel, und Meschullam, der Müller, stand und streichelte seinen weißwelligen Mörderbart. Aus diesen unauflösbaren Rätseln riß Jirmijah ein rauher Aufschrei des Königs: »Adonai … Ich hab dich liebgehabt …« Der Zeuge des großen Rechtens schluchzte auf, doch der König maß ihn mit kaltem Fieberauge. In diesen Tränen lag nur das gewöhnliche und flüchtige Erbarmen eines weichbeseelten Menschen mit dem Unglück. Anathot weinte törichte Tränen des Herzens.

Der Herr aber weinte nicht die Tränen der Ewigkeit über seinen Diener. Stumm blieb er hinter seinen hundert Himmeln aus Eis. Die Seele Josijahs schrie nicht um Erlösung, sie schrie um einen Schuldspruch, sie wollte nichts als den Grund wissen, warum sie nach einem Leben für Adonai von demselben Adonai verdammt worden war, der die frechsten Übertreter und Frevler segnete, der seinem Erbfeinde Ägypten den Sieg gab. Nur die Sünde kennen wollte Josijah, die sein Elend verursacht hatte

. Dies schon war genug für die vernünftige Seele, damit sie in Frieden dahinfahre. Doch nicht einmal dieser letzte, niedrigste Trost wurde der vernünftigen Seele zuteil. Jirmijah aber konnte ihr nicht helfen, denn er selbst erstarrte unter der unermeßlichen Gottentlegenheit. Drei Tage und drei Nächte währte das Rechten des Königs. Jirmijah mußte standhalten. Nur stundenweise, wenn Fieber und Schmerzen den Verwundeten übermannt hatten, verfiel er selbst in einen dumpf-schreckhaften Schlaf.

Diese Tage und Nächte schmiedeten des Künders Herz auf ihrem Amboß. Die kindliche Hingegebenheit an Adonai wich einem neuen Widerstand und einem lauernden Eigenwillen. Und er gedachte von Stunde zu Stunde mehr, dem Herrn zu kündigen und sich der Aussonderung zu entziehen. Denn diese war ja auch nur ein Bund, den man brechen konnte, wie Adonai den Bund mit Josijah gebrochen hatte. Die Stimme außen und innen hatte ihn betört und überredet, und er hatte sich überreden lassen. Was war die Folge davon, daß er vom Herrn schon vor seiner Geburt erkannt und eingesetzt worden war? Vernichtete Jugend, ausgebranntes Leben! Er hatte sein Vaterhaus geflohen, seine Mutter mit Kummer belastet, seinen Vater zu Tode empört, seine Brüder mit Haß erfüllt. Durchs Land war er gezogen, die Angst vor der letzten Frist in allen Gliedern. Er hatte im Tempel das Wort gekündet und Ärgernis erregt. Wozu das alles? Was half es der Welt, daß ihm der Herr die Gefahr offenbarte, in der sie schwebte? Was hatte es dem König geholfen, daß er ihn, Jirmijah, an sich zog? Unheil brachte er allen, die er berührte. Sein Amt war völlig nutzlos und schlimmer als nutzlos, schädlich und erbitternd.

Hatte der König in den Tagen der Vorbereitung nicht immer gefragt: Ist ein Wort vom Herrn da? Da es gegolten hätte um Israels willen zu sprechen, da war der Herr in seiner grausamen Undeutlichkeit schweigsam geblieben. Warum aber sollte der kleine Jirmijah aus Anathot, immer wieder berufen, immer wieder verstoßen, die Verantwortung für eine ganze Welt tragen? Immer wieder im Hinterhalt liegen und auf ein Zeichen lauern, dies war schrecklicher als Tod. Genügte es nicht, irgendwo, unbekümmert um Gottes Sorgen, als Teil der Welt in der Welt zu leben und mit ihr zugrunde zu gehen, nicht gelinder und nicht gräßlicher als alle anderen!?

Dies war Jirmijahs Erwägen, als er den fiebernden König Tag und Nacht zum Herrn um Verdeutlichung schreien hörte. Die dritte Nacht war die ärgste. Die Schlagader am Halse Josijahs raste sichtbar. Das eiserne Fleisch seines Körpers war im Schmelzofen des Fiebers und des Rechtens dahingeschwunden wie Wachs. Ein gelber, langer Knochenmann streckte sich auf dem Bette. Seine Stimme war zu heiserem Pfeifen geworden: »Sprich, Anathot … Sprich, Adonai … Ich habe am Fasttag der Versöhnung einst heimlich einen Becher Weins getrunken … Ist es das? …« Jirmijah schüttelte müde den Kopf: »Wie könnte es dies Geringe sein, mein König …« »Sprich, Anathot … Sprich, Adonai … Mich hat es gar oft nach den Weibern meiner Nächsten gelüstet … Und ich habe in Geilheit mein Gelüsten erhört, hundertmal … Ist es das? …« »Wie könnte es dieses sein, mein König … Dein Vater David hat sich schwerer vergangen mit dem Weibe und er wurde in seinem Kind gestraft … Doch in Frieden ging er schlafen …«

»Sprich, Anathot … Sprich, Adonai … Ich war voll Unreinheiten … bei Tag und bei Nacht … In Taten und in Gedanken … Ist es das? …« »Wie könnte es dieses sein, mein König … Schon dein Vater Salomo hat gesprochen, und der Herr weiß es: Aller Staub ist Sünde …« In endlosen Erforschungen wurden so alle Gründe erschöpft, die Gottes Strafe hätten rechtfertigen können. Da ballte der König seine schwachen Fäuste wider Jirmijah: »Verflucht seist du, Anathot, wenn du mir nicht antwortest!« Jirmijah warf sich vor dem Lager nieder: »Ich will dem König eine Antwort geben, damit seine Seele Frieden finde … Nicht mein König trägt Sünde … die Väter meines Königs aber tragen Sünde, die haben Schuld … Das Heilige entheiligten sie, das Reine verunreinigten sie, des Bundes gedachten sie nicht … Mein Herr mußte nach ihnen das Land säubern … Doch Gott spricht, daß er die Sünde bis ins vierte Geschlecht heimzahle.« Dies war eine klare Antwort, wenngleich keine Antwort aus Jirmijahs Herzen. Das Gesicht des Königs schien sich zu entspannen. Die Augen sanken tief in die umschwärzten Höhlen zurück.

Der Todwunde lag starr, dann aber geschah etwas ganz Absonderliches. Josijah fuhr mit seinen abgezehrten Beinen vom Lager, erhob sich und wankte, Jirmijah fortschüttelnd, mit steifem Schritt zum Fenster des Gemaches, das auf den zweiten Wachthof hinaussah. Er stemmte sich mit zitternden Fäusten auf die Brüstung und seine pfeifende Stimme schrillte mit aller Kraft, die sie noch besaß: »Befehl des Königs … Den Tempel verbrennen! … Feuer in das Allerheiligste! … Die Lehre vernichten! … Befehl des Königs … Adonai ist Israels Feind … Nur Schlimmes hat er über Jehuda gebracht … Er hat’s ausgesondert zum Spiel seines Hasses … Fort mit Adonai! … öffnet die Tore weit für Râ und Ptah und Baal und Mardukh und Tammuz und Aschera … denn sie sind groß und milde … Befehl des Königs …«

(…)

Und doch, König Josijah brach das Schweigen, und seine Stimme war so voll und so tönend wie in den hohen Tagen seines Königtums. Auch seine Augen gingen wieder auf und füllten sich mit rätselhaften Bildern. Er sagte dreimal dasselbe Wort und dreimal mit verschiedenem Ausdruck. Dieses Wort aber hieß: »Die Väter …«

Das erstemal klang es wie schreckhafte Einsicht. Das zweitemal wie eine unsichere Frage. Das drittemal aber sang Josijah dieses kurze Wort mit einem übersichtigen Lächeln, als sei es eine Wendung aus dem Tonschatz der Kinder Asaphs. Die Schweigenden drängten sich dichter um das Lager. Oh, wäre es doch enträtselbar, das Bild der heiligen Väterversammlung, das die Seele Josijahs mit dem letzten Lidschlag irdischen Bewußtseins nun sehen mochte, ehe sie selbst sich dorthin versammelte, wo jener Schlaf herrscht, der an Wachheit alles Weltwachsein übertrifft.

Hatte er zuerst die nächsten Väter gesehen, Amon und Manasse, deren Anblick ihn mit Schreck erfüllte, und sah er jetzt Abraham, Isaak, Jakob, sah er Mose und David und sich selbst bei ihnen? Wo thronte diese Versammlung der Väter? Fern vom Herrn im schmutzigsten Zwielicht des Scheol oder nahe dem Herrn, in dessen endlich entschleierte Anwesenheit versunken, die einst dem Erdenauge Mosis wie ein vorüberwandelnder Saphir erschien? Nach einem neuen endlosen Schweigen wandte der König das Haupt ein wenig zur Seite, so daß seine Augen auf dem Knaben Mathanjah haften blieben.

Sein Blick aber schien den jüngsten Sohn gar nicht wahrzunehmen. Er füllte sich wieder mit unbegreiflichen Bildern, und die gesundete Stimme zitterte unter ihrer Macht. Von neuem hub diese Stimme ein einziges Wort zu sagen an, das sie dreimal wiederholte. Dieses Wort aber hieß: »Die Kinder …« Und wieder wurde es mit dreifach verschiedenem Ausdruck gesprochen. Das erstemal voll seufzenden Erbarmens, das zweitemal wie eine unsichere Frage, das drittemal mit einem singenden Ausdruck beseligten Erstaunens. Noch unenträtselbarer als das Bild der Väterversammlung war das Bild des Kinderzuges bis an das Ende der Zeit. Beide aber ergaben erst Israel, seine Wahrheit und Aussonderung. Der König, dem nach Schaffans ewigem Schriftzeugnis kein zweiter glich in Jehuda und Israel, hatte vielleicht mit einem einzigen Gebieterblick in seiner letzten Stunde den Anfang und das Ende erfaßt.

An diesem Bilde aber war sein Auge endlich gebrochen. Schon machte Ahikam dem neuen König ein Zeichen, damit er den Dienst des Liderschließens an seinem Vater vollziehe, als Josijahs Stimme nach einem tiefen Seufzer noch einmal »Anathot« rief. Jirmijah warf sich als ein vom König Aufgerufener zur Erde und näherte sein Antlitz dem Verlöschenden, der mit großer Klarheit langsam diese Worte sprach: »In Frieden dahinfahren … Es war doch kein Trug … Anathot, sprich zu Ihm … Ich hab Ihn lieb … Wieder … Noch immer …« Danach streckte König Josijah, Amons Sohn, seine Glieder aus und starb.

Werfel, Franz. Jeremias. Höret die Stimme: Roman (S.183-188). epubli. Kindle-Version.

„In seinen Tagen unternahm der Pharao Necho, der König von Ägypten, einen Kriegszug gegen den König von Aššur an den Euphrat. König Joschija stellte sich ihm entgegen. Doch der Pharao tötete ihn bei Megiddo, sobald er ihn sah.“

2. Könige 23.29