Franz Werfel – der Abschied

Der Prophet Jeremia wird von Gott berufen. Franz Werfel erzählt, wie er seinen Weg geht, gegen allen Widerstand.

Für die erste Nacht nach der Festwoche hatte Jirmijah seinen heimlichen Abschied vom Vaterhause angesetzt. Eine bittere Feierzeit war das gewesen. Der Vater hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Seine Brüder begegneten ihm mit offenem Hohn. Ja selbst die Bruderkinder liefen vor ihm mit abscheulichem Kichern davon wie vor einem Gezeichneten. Er war ein Gezeichneter in seiner Sippe.

Durch den Besuch des Herrn! Was sie ihm vorwarfen, freilich, das konnte er nicht ergründen. Überhebung, Absonderung, Narrheit?! Was half das alles? Es war einmal so, blieb der wirkliche Grund auch verborgen. Endlich brach die Nacht des heimlichen Abschieds an. Alles war vorbereitet. Baruch wartete mit den Eselinnen an der schadhaften Stelle in der Umfassungsmauer. Jirmijah aber zögerte noch immer. Sein Herz war nicht zu Kampf und Streit geboren. Deshalb hatte er sich ja entschlossen, das Haus in aller Stille zu verlassen. Nicht einmal für den Herrn wollte er die Schuld auf sich nehmen, an seinem Vater ungehorsame Härte zu üben. Warum nur war der Herr gerade auf ihn verfallen, der so leicht litt, der so wenig Kraft besaß, Schmerz zu erregen und zu ertragen? Hatte er nicht härtere, kältere, stärkere Seelen in diesem Volke für sein Vorhaben zu finden gewußt?

Er stand noch immer in seiner Knabenkammer. Durchs Fenster wanderte sein Blick den alten Weg gen Norden, wo sternlose Mitternacht herrschte und nichts zu unterscheiden war, nicht einmal der Umriß des verfallenen Weihtums. Mit einem Seufzer riß er sich von dem Fensterblick seines bisherigen Lebens los. Dann füllte sein lautloser Schritt den nächtlichen Mittelgang des Hauses, wie so oft. Jetzt aber kehrte er nicht heim, sondern ging fort, das Bindende für immer zu meiden. Vor dem Elterngemach hielt er an und horchte.

Auch seiner Mutter hatte er nichts von diesem Entschluß gesagt. Da war’s ihm plötzlich daß für Abi, der von ihm nichts verborgen blieb, auch sein heimlicher Abschied nicht verborgen geblieben war. Kaum hatte er dies gedacht, als ihn schmächtige Arme umfingen. Aus der Dunkelheit erzeugt, stand Abis kleine Gestalt, nicht sichtbar, nur fühlbar, vor ihm.

»Meine Mutter«, flüsterte er, »ich habe immer gewußt, daß du alles weißt …« Da sie Angst hatte, Hilkijah zu wecken, hauchte sie kaum vernehmlich: »Ich habe gewußt, daß mein Jüngster ohne Abschied geht …« »Und hast du mich kommen gehört, Mutter?« »Ich habe nicht gehört, ich hab’s gefühlt … Und trat hinaus, damit Jirmijah nicht ohne Abschied gehe …« »Was hätte neues Reden geholfen? … Es muß doch so sein, Mutter …« »Ich weiß, daß es so sein muß … Denn Er sendet dich fort …« Er zog sie an sich: »Ich bin nicht treulos, Mutter …«

Abi gab keinen Laut von sich. Jirmijah konnte nicht erkennen, ob sie schwieg, um Tränen zu verbergen. Er hob ein wenig sein Flüstern: »Sprich auch zum Vater, daß ich nicht treulos bin … Es ist schwer für einen Mann, ohne den Segen seines Vaters hinauszugehn …« Im Gemach knarrte das Lager. Hilkijahs strenge Stimme durchschnitt das Dunkel: »Wo bist du … Mit wem redest du da?« Abis Antwort kam schon aus dem Innern des Gemaches: »Hier bin ich … Mit wem soll ich reden? … Du hast geträumt …«