Wilhelm Busch – Warum Gott hinter dem Sünder her ist

Die folgende Geschichte soll sich irgendwo in Kurdistan ereignet haben. Dort herrschte noch die schreckliche Sitte der Blutrache. Da geschah es nun einmal – so wird erzählt –, dass ein Mann einen anderen im Streit erschlug. Sofort machte sich der Mörder auf die Flucht in die einsamen Berge; denn nun würde ja der Sohn des Erschlagenen hinter ihm her sein. Und er würde nicht ruhen, bis die Rache vollzogen wäre.

Und so war es auch. Wochen und Monate hindurch hetzte der Rächer hinter dem Mörder her. Der Mörder hatte keine ruhige Sekunde. Und der Verfolger ließ nicht von ihm ab. Immer neue Anzeichen verrieten dem Gejagten, dass der Rächer hinter ihm her war.

Einmal war der Mörder im Schatten eines Baumes erschöpft eingeschlafen. Da erwachte er jäh in einem ungeheuren Schrecken: Eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt. Er schlug die Augen auf und sah in das Gesicht seines Verfolgers.

»Bist du der Mörder meines Vaters?«, fragte der

Mann streng.

»Warum soll ich weiter fliehen? Ich kann nicht mehr!

Also will ich es gestehen: Ja, ich habe die Schuld auf mich geladen und deinen Vater erschlagen. Nun töte auch mich. Denn ich bin des Todes schuldig.«

Da ging ein eigenartiger Glanz über das Gesicht des Verfolgers: »Hör zu! Ich bin Christ. Und als Christ weiß ich um die Herrlichkeit der Vergebung. Ich laufe diese langen Wochen hinter dir her, um dir zu sagen:

Ich habe dir vergeben. Ich habe immer versucht, dich zu finden, weil ich dir sagen will: Komm nach Hause!

Lebe im Frieden! Ich habe dir vergeben.«

Da schlug der Schuldige die Hände vors Gesicht und weinte: »Wie viel hätte ich mir erspart, wenn ich sofort zu dir gekommen wäre und meine Schuld bekannt hätte! Ich meinte, du wärest hinter mir her, um mich zu vernichten. Und nun bist du mir nachgelaufen, ummir zu vergeben! Wie sinnlos war doch meine Flucht!«