Wilhelm Busch – Fast hätte ich Prügel bekommen

Wilhelm Busch erzählt über seine Zeit in den politischen Wirren der Weimarer Republik

„Freidenker-Versammlung am Kesselbrink! Kommt alle! Es spricht. . . Freie Aussprache!“ — So schrien rote Plakate von allen Ecken und Mauern.

Es waren aufgeregte Zeiten damals um das Jahr 1925 herum. Es begann so langsam, daß politische Versammlungen in Form von „Saalschlachten“ gehalten wurden. Und nun erst eine weltanschauliche!

Es war mir, dem Hilfsprediger in einem völlig marxistischen Bezirk, klar, daß ich dort am „Kesselbrink“ alle die Männer finden würde, die ich sonntags in meiner Kirche vergeblich suchte.

Also mußte ich auch dorthin!

Ein riesiger, überfüllter Saal! Tabaksqualm! Stimmengesumm! Ich drängte midi ganz nach vorn und fand erstaunlicherweise noch einen Stuhl in der ersten Reihe. Die Männer um mich her waren offenbar freidenkerische Prominenz. Sie schauten mich jedenfalls sonderbar an. Und ähnlich wie mir muß dem Daniel in der Löwengrube zumute gewesen sein.

Dann klingelte der Vorsitzende. Der Redner hielt einen langen Sermon, der nichts Neues brachte. Das Übliche: Als die Menschen noch nichts wußten von den Geheimnissen der Natur, da erklärten sie sich alles, was ihnen unheimlich war, so, daß sie sagten: Das sind die Götter. Wenn es donnerte und blitzte, dann waren da eben die Götter am Werk. Aber nun sind wir aufgeklärt. Alle Geheimnisse sind enthüllt. Damit können wir auf die Hilfskonstruktion des Glaubens verzichten. Es ist die Schuld der Kirchen, daß sie den Menschen auf dem geistigen Stand der Steinzeit festnageln wollen.

Es war sehr unruhig im Saal. Schließlich kannte ja jeder diese Weisheiten.

Aber darauf folgte die Diskussion. Da wurde es interessant. Die verschiedenartigsten Geister kamen zu Worte. Die Gemüter erhitzten sich. Immer häufiger erschollen Zwischenrufe, wütendes Gebrüll oder schallendes Gelächter.

Ich hatte mir schon längst eine kleine Rede zurechtgelegt. Immer wieder erhob ich die Hand. Längst lag mein Meldezettel auf dem Vorstandstisch. Aber ich wurde einfach übergangen.

Und dann geschah es: Ein alter Freidenker ergriff das Wort. Ich glaube, daß er ein ganz großartiger Bursche war. Denn er sagte nicht die üblichen, abgedroschenen Phrasen. Offenbar hatte er einiges vom Evangelium gehört und sich seine eigenen, ungefügen Gedanken darüber gemacht. Das machte die Versammlung noch unruhiger.

Jetzt rief er: „Das ganze Christentum ist doch voller Widersprüche! Immer sagen diese Christen, sie seien Sünder. Und dann wieder erklären sie, sie hätten ein ganz besonders gutes Verhältnis zu ihrem Gott. Eins kann doch nur richtig sein …“

Ein paar junge Burschen heulten: „Aufhören!“ Irgendwo wurde schallend gelacht. Der Vorsitzende klingelte und rief: „Ruhe!“

Das war der Augenblick, wo bei mir innerlich etwas explodierte. Der Zorn über all die dummen Reden und erst reckt über die Lästerungen, der Ärger

,daß hier ein Mann ausgelackt wurde, der die entscheidende Frage des Evangeliums begriffen hatte: wie man Sünder sein kann und dock ein Kind Gottes, der Unmut darüber, daß man mich nicht hatte zu Wort kommen lassen —, das alles führte zu einer inneren Explosion. Ich sprang auf und rief, so laut ich konnte: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde!“

So! Jetzt hatte wenigstens der Redner seine Antwort. Aber ich hatte keine Sekunde Zeit, mich darüber zu freuen; denn im nächsten Augenblick war der ganze Saal ein tobender Hexenkessel. Ich sah in aufgerissene Mäuler, erblickte geschwungene Fäuste, hörte tobendes Geschrei. Ein wilder Mensch sprang auf mich zu und erhob die Arme zum Schlagen … Es ging alles so schnell, mein Herzschlag setzte einen Augenblick aus vor Schreck. Dann — ja, dann geschah etwas Merkwürdiges:

Ich fühlte, wie ein starker Mann mich in seine Arme riß. Ich wollte mich wehren. Aber er flüsterte mir ins Ohr: „Seien Sie jetzt ganz still! Machen Sie keinen Mucks!“ Dann hatte er keine Zeit mehr für mich. Buchstäblich deckte er mich mit seinem Leibe, während er den Andringenden mit harten Worten befahl, von mir abzulassen.

Erst nachträglich erfuhr ich: Er war ein großer Mann bei den Freidenkern. Und offenbar ein kluger Mann, der sich sagte: „Wenn hier dieser kleine Pastor zusammengehauen wird, dann ist es für ihn eine gute Reklame, für uns aber eine schlechte.“ Lange hielt er mich an sich gedrückt, bis es wieder ruhig geworden war. Dann ließ er mich los. Etwas benommen verließ ich den Saal.

In der Bibel steht: „Er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dick auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Daran habe ich immer geglaubt. Aber dass mein Herr sogar führende Atheisten zu seinen Engeln machen kann —, das allerdings habe ich erst an jenem Abend gelernt.