In der Zeit nach 1934 aber wurde es ernst. Dies war ja noch das erste Jahr, wo alles im Aufbau war. Die Staatspolizei war inzwischen aufgebaut. Und so fing die Zeit an, in der wir nicht mehr diskutieren, nicht mehr durch Lücken schlüpfen konnten, sondern einfach um des Gewissens willen ohne Verein und Organisation um das Wort Gottes zusammenkamen. Und wo mich dann immer wieder die starke Hand traf und ins Gefängnis warf. Davon möchte ich Ihnen jetzt noch berichten. Ich erzähle Ihnen mein aufwühlendstes Erlebnis, meine erste Verhaftung. Das war in Darmstadt. Wir hatten damals evangelische Wochen eingerichtet mit einem Team. Dazu gehörten der heutige Bischof Lilje und Dr. Humburg, der schon in der Ewigkeit ist, und Eberhard Müller, heute Akademieleiter, ich selbst und eine Reihe von fünf bis sieben Leuten. Wir richteten diese Wochen zugleich in Darmstadt, Kassel und Mannheim ein. Dann sprach ich nachmittags in Mannheim, abends in Darmstadt und am nächsten Morgen in Darmstadt, nachmittags in Kassel usw. Und so eilten wir durch die Lande, fünf Tage lang. Unsere Themen damals würden heute wohl keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken. In Mannheim etwa sprach ich am Nachmittag über „Liebe und Ehre in der evangelischen Jugenderziehung“. Sie würden heute fragen: Was ist das? Damals begriff jeder: Wir Christen sagen, die Liebe ist das Höchste, aber die Nazis sagen, die Ehre ist das Höchste. Was sie darunter verstanden, haben sie eigentlich nie gesagt. Es war also eine Auseinandersetzung um die höchsten Werte. Da war die riesige Christuskirche in Mannheim mit 3000 Leuten gerammelt voll, nachmittags um 14 Uhr. Das waren Auseinandersetzungen, wirkliche Geisteskämpfe! Wobei wir immer mit dem Leben spielten. Denn sie konnten zu jedem Satz sagen: Du hast die offizielle Weltanschauung der Partei angegriffen.
Ich hatte in Mannheim gesprochen und war gegen Abend in Darmstadt. Ein Freund holte mich mit dem Auto ab und sagte: „Mein lieber Wilhelm, die Pauluskirche in Darmstadt ist voll, aber die Staatspolizei, die uniformierte Polizei, hat sämtliche Türen besetzt, um dich festzunehmen und am Reden zu hindern. Ich setze dich in einer stillen Seitenstraße ab. Du musst alleine sehen, wie du hineinkommst. Ich warte den ganzen Abend in der Seitenstraße auf dich.“ Dann setzte er mich ab und sagte noch: „Ich bleibe hier stehen, falls du abhauen musst. Jetzt sieh zu, wie du weiterkommst.“ Ich ging die Straße entlang und kam an einen großen freien Platz. Da stand die große Pauluskirche. Furchtbar viele Menschen, große Aufregung, und in den Türen, die erleuchtet waren, stand die Staatspolizei. Man erkannte sie schon an ihren Gesichtern. Das war eine Mischung aus Spießbürger, Bulldogge und uniformierter Polizei. Die kontrollierten jeden, der noch hineinwollte. Da war mir klar: Ich komm‘ da nicht rein. Es hatte sich neugieriges Volk angesammelt und ich sah, wie sie mich suchten. Also, hier kam ich nicht durch. Ich wollte aber meine Predigt halten. Ich sah mir das Gelände an. Da stand die Kirche, und neben der Kirche war ein Gitter. Dahinter lag ein stiller Hof. Der Hof wurde am Ende von dem Pfarrhaus abgeschlossen. Der Eingang ins Pfarrhaus lag in der Nebenstraße. Als ich mir das Gelände anschaute mit dem Blick eines alten Offiziers aus dem 1. Weltkrieg, sagte ich mir: Die einzige Möglichkeit, um da reinzukommen, ist durch den Hof, denn der ist nicht bewacht. In den Hof aber komme ich nur vom Pfarrhaus aus. Ob es nicht möglich ist, durch’s Pfarrhaus in den Hof zu kommen? Ich ging um die Ecke, das Pfarrhaus war dunkel, aber die Tür stand offen. War das nur eine Falle? Standen die drinnen und warteten, dass ich kam? Oder hatte der Pfarrer mir eine Tür öffnen wollen? Ich stand mutterseelenallein vor der offenen Tür. Sollte ich durchgehen oder nicht?
Man sagt, der Mensch von heute sei sehr einsam, aber so habe ich Einsamkeit selten gespürt wie in diesem Augenblick. Völlig preisgegeben! Aber ich kann es nur so bezeugen: In dem Augenblick, als ich diese Einsamkeit spürte, – es konnte mir keiner die Entscheidung abnehmen – war mir’s, als ob ich greifbar spürte, ER ist neben mir. Jesus hat es zugesagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Ich wurde so glücklich, dass ich es Ihnen gar nicht beschreiben kann. ER hat mich erkauft, ER hat mit seinem Blut bezahlt. ER lebt, ER ist bei mir. Ich bin auf der Seite des Siegers. Ich möchte Ihnen nochmal sagen: Schieben Sie es nicht so lange auf, Christ zu werden! Auch Ihr Leben kommt in solche Krisen-Situationen. Da muss man’s haben. Da kann man nicht mehr suchen! Dann ging ich hinein in das dunkle Pfarrhaus. Plötzlich packte mich ein Arm, und jemand flüsterte: „Kommen Sie mit!“ War das die Staatspolizei? Ich wurde die Kellertreppe hinuntergeführt, durch mehrere Keller, bis ich merkte: nun bin ich im Heizungskeller der Kirche. Der lag offenbar unter dem Hof. Aber alles war stockdunkel. Der Mann, der mich führte, machte die Taschenlampe an, zeigte auf eine kleine Wendeltreppe und sagte: „Gehen Sie rauf!“ Ich ging hinauf und war auf einmal in der Kirche. Alles gerammelt voll! Ich wusste nicht, wer der Mann war, und ich bin später herausgekommen, ohne ihm zu begegnen. – Erst nach einigen Jahren habe ich auf einem Kirchentag erfahren, wer es war. Da steht doch der bekannte Generalsekretär der Ökumene, Visser’t Hooft, vor mir und sagt: „Bruder Busch, Sie sind mein Kirchenkampf-Erlebnis.“ Ich sage: „Wieso?“ „Ich war der Mann in Darmstadt. Ich hatte dem Pfarrer gesagt: Wenn der Busch klug ist, kommt er hier herein. Aber Sie dürfen ihn nicht hereinlotsen, sonst werden Sie verhaftet. Gehen Sie mit Ihrer Familie raus und lassen Sie mich als Ausländer das machen.“ Ausländer konnten damals mehr riskieren, das erfuhr ich erst nach Jahren.
Nun war ich aber in der Kirche. Ich hatte meinen hellen Regenmantel dem ersten Besten in den Arm geworfen. Von der Kanzel holten sie nie jemanden herunter. Mein Thema lautete: „Jesus Christus, der Herr“. Seitdem ich in das Pfarrhaus gegangen war, war eine große Ruhe über mich gekommen. Da stand die uniformierte Polizei und wollte mich kriegen, und ich stand oben und konnte nur sagen: „Lassen Sie jetzt einmal alle Unruhe beiseite. Wir wollen jetzt vom Herrlichsten reden, was es überhaupt gibt, nämlich von dem, der aus der ewigen Welt zu uns gekommen ist, von Jesus.“ Es waren Lautsprecher nach draußen gelegt worden, weil klar war, dass die Kirche nicht groß genug war. Die Staatspolizei hatte nun furchtbar viel damit zu tun, die Lautsprecherkabel durchzuschneiden, damit die Leute draußen die „schreckliche“ Botschaft nicht hörten. Und dann habe ich eine ganze Stunde gesprochen. Mein Generalthema war eigentlich nur dieser eine Liedvers: „Wüssten’s doch die Leute, wie’s beim Heiland ist, sicher würde heute mancher noch ein Christ.“ Gott gab mir große Freudigkeit, dass ich ihnen einfach das zeigen konnte, was es heißt, dass der Mann von Golgatha Ströme von Vergebung und Gnade in mein Leben gießt, dass ich mit dem Auferstandenen leben kann. Das ist etwas Wundervolles!
Ich bin dann herunter von der Kanzel und habe meinen Mantel gepackt. Die Leute haben damals schnell geschaltet. Schnell waren 20 Leute um mich herum. Die Polizei kam sofort gerannt: „Wo ist Pfarrer Busch?“ Aber jetzt waren erst einmal 20,30 Leute da, die sie kontrollieren mussten. In der Zeit war ich längst entwichen, durch den Keller ins Pfarrhaus und dann hinaus. Schon stand ich wieder draußen und sah mir dieses lächerliche Theater an, wie sie jeden Herauskommenden kontrollierten. Sie hatten Fotografien von mir. Ist er das nicht oder ist er es? Ich aber stand friedlich draußen und schaute in aller Ruhe zu.