Vergil – Hirtengesänge

Letzte Weltzeit brach an – Prophetie der Sibylle von Kyme:
Groß von Anfang an neu wird geboren der Zeitalter Reihe.
Schon kehrt wieder die Jungfrau, kehrn wieder saturnische Reiche,
schon wird neu ein Sprößling entsandt aus himmlischen Höhen.
Sei nur dem eben geborenen Jungen, mit dem das Geschlecht von
Eisen vergeht und in aller Welt das von Gold wieder aufsteht,
sei nur, Lucina, du reine, ihm gut; schon herrscht dein Apollo!

Vergil – Hirtengesänge

Auszug aus der vierten Ekloge

Markus Spieker schreibt dazu:

Unter Christen wurde Vergil für ein anderes Werk als die «Äneis» berühmt, nämlich seine «Hirtengesänge». Als er sie verfasste, war Vergil noch ein junger Mann. Die Hirtengesänge sind eine Sammlung von Gedichten, aus denen eins besonders hervorsticht. Vergil beschreibt darin eine Welt, die vom Kämpfen müde ist. Doch ein neuer Anfang steht unmittelbar bevor. «Schon kehrt wieder das Zeitalter der Jungfrau», dichtet Vergil, «schon wird neu ein Sprössling entsandt aus himmlischen Höhen.» Mit diesem jungfräulich geborenen Retter solle «das Geschlecht von Eisen vergehen und ein Zeitalter von Gold beginnen». Dieser Knabe solle «die Welt lenken mit den Kräften des Vaters», er solle dafür sorgen, dass «die Schlange stirbt».
Bis heute spekulieren Altertumsforscher darüber, was Vergil mit diesen Zeilen gemeint haben könnte. Sie klingen, als hätte Vergil sich vom biblischen Propheten Jesaja inspirieren lassen. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn das Buch Jesaja kursierte in griechischer Übersetzung auch in Rom.
Die Hirtengedichte entstanden um das Jahr 40, als die Auseinandersetzungen um die Nachfolge Cäsars noch in vollem Gang waren. Augustus war damals bereits 23 Jahre alt und stand knietief im Blut seiner getöteten Feinde. Er kann deshalb nicht der himmlische Knabe sein, den Vergil verheißt. Spielte Vergil unbewusst auf den Jungen an, der ein paar Jahrzehnte später in Bethlehem geboren werden sollte? Führte womöglich der Heilige Geist ihm bei dem Hirtengesang die Feder? die alten Kirchenväter haben sich diese Frage immer wieder gestellt.

Markus Spieker – Jesus S. 144