Vor vielen Jahren, als Ausländer noch frei in China herumreisen konnten, wanderten an einem frühen Morgen zwei junge Männer auf einer schmalen, holprigen Landstraße. Jeder von ihnen trug auf dem Rücken einen Rucksack mit Bibeln, Neuen Testamenten und Evangelien. Ihr Ziel war eine kleine, abgelegene Marktstadt, wo sie ihre Bücher verkaufen und, wenn möglich, den Leuten von dem lebendigen Gott erzählen wollten.
Die schmale Straße führte zwischen tiefgrünen Reisfeldern hindurch, und nach etwa zwei Stunden kamen die beiden Freunde in den Außenbezirken der Marktstadt an. Schon von weitem sahen sie den großen Platz voller Menschen und Maultiere, die sich zwischen Ständen mit allen möglichen Waren bewegten. Die jungen Männer zögerten. »Europäer wie uns haben sie vielleicht noch nie gesehen«, sagte der Jüngere, der Jakob hieß. »Nein, aber wir zeigen ihnen einfach die Bücher«, meinte David, der Ältere der beiden. »Komm weiter, ich glaube, sie haben uns entdeckt.« Er hatte Recht. Als sie näher kamen, wandten sich ihnen alle Gesichter zu und bald waren sie von einer neugierigen Menschenmenge umringt. Manche lachten, andere blickten sie fragend an, doch niemand schien ihnen feindlich gesinnt zu sein. Sie konnten viele Bücher verkaufen, denn obwohl die meisten Bauern, die zum Markt zusammengeströmt waren, selbst nicht lesen konnten, hatten doch viele von ihnen Kinder oder andere Verwandte, die diese Kunst beherrschten. Bücher waren etwas Seltenes und Wertvolles – und die Bücher der beiden Männer waren so billig!
David und Jakob gingen langsam über den Markt. Sie sahen viel Schmutz und Hässliches. Bettler schrieen mit heiserer Stimme nach Münzen, aber die Händler stießen sie zur Seite. Überall wurde gehandelt und gestritten, überall versuchten die Leute, sich gegenseitig zu betrügen oder zu übervorteilen. Die beiden jungen Freunde steuerten auf eine Baumgruppe zu. Dort ließen sie sich zwischen den Menschen nieder, die im Schatten ihr Mittagessen einnahmen, und packten ihre restlichen Bücher aus.
»Erzählt uns, was in euren Büchern steht!«, forderte einer der Bauern sie auf. »Wir können nicht lesen.« Was konnte David ihnen erzählen? Wenn er ihnen von dem lebendigen, liebenden Gott berichtete – würden sie das begreifen? Würde es sie überhaupt interessieren?
Er blickte in die Gesichter, die sich ihm zugewandt hatten: Manche sahen müde aus, andere gierig und hinterhältig. Und dann begann David von Jesus zu erzählen, von dem Mann, der allen Menschen wohl tat. Er erzählte von dem Jesus, der die Leute aufgefordert hatte, ihre Feinde zu lieben; und der gesagt hatte: »Freuen dürfen sich alle, die Frieden schaffen, die barmherzig sind, die ein reines Herz haben.«
Die Leute hörten David erstaunt zu. Immer mehr versammelten sich um ihn. David kam jetzt richtig in Fahrt und erzählte weiter und weiter … Plötzlich wurde er unterbrochen. Ein Mann drängte sich durch die Menge und rief ganz aufgeregt: »Ich kenne den Mann! Er lebt in unserem Dorf! Kommt, ich bringe euch zu ihm.«
Vergeblich erklärte David, dass der Mann, von dem er gesprochen hatte, vor langer Zeit diese Erde verlassen hatte. Der Chinese wischte all seine Erklärungen beiseite. »Nein, nein!«, versicherte er. »Dieser Freund von euch – der ist wirklich einmalig. Er wird glücklich sein, euch zu sehen, da ihr ihn doch so gut kennt. Kommt, folgt mir! Er wohnt im nächsten Tal.«
David und Jakob waren inzwischen nur zu bereit, dem Mann zu folgen. Seine Worte hatten sie neugierig gemacht und sie hatten noch viel Zeit. Der Bauer hatte es sehr eilig mit dem Aufbruch, und so schnallten sie sich ihre Rucksäcke auf den Rücken und folgten ihm. Ihr Mittagessen nahmen sie beim Wandern ein. Nach etwa einer Stunde kamen sie in dem Dorf an: einigen heruntergekommenen Hütten, die über eine weite Fläche verstreut waren. Neben den Hütten wälzten sich Schweine im Schmutz. An den Straßenrändern türmte sich der Abfall.
»Dort hinten lebt euer Freund«, sagte der Bauer und stieß ein Kind mit kranken, geschwollenen Augen aus dem Weg. »Er wird staunen, euch zu sehen.« Noch bevor der Bauer vor einem Haus hielt, wussten David und Jakob, dass sie am Ziel angekommen waren. Vor dieser Hütte türmte sich kein Unrat. Das Haus war nicht von festgetretenem Lehm umgeben, sondern von einer grünen Wiese.
Alles war ganz anders. Der Mann, der zur Tür kam, war ebenfalls anders. Sein Gesicht war offen und freundlich. Das Kind mit den kranken Augen, das ihnen gefolgt war, ging zögernd zur Tür und wurde nicht weggestoßen. »Deine Freunde«, sagte der Bauer. »Sie haben auf dem Markt von dir gesprochen. Ich habe sie hierher gebracht.«
Jakob drückte dem Bauern die Münze in die Hand, die dieser erwartet hatte, und er ging davon. Die beiden Freunde standen allein diesem freundlichen Fremden gegenüber, der irgendwie kein Fremder war.
»Kommt herein!«, sagte der Mann höflich. »Setzt euch. Ihr seid weit gewandert und ich kann euch nur wenig anbieten. Ich mache euch einen Tee.« Während sie tranken, unterhielten sie sich. »Was macht ihr denn in diesem abgelegenen Dorf?« »Wir verkaufen Bücher.« »Wovon handeln eure Bücher?« »Von Gott, dem Schöpfer, und seinem Sohn Jesus Christus.«
»Jesus?« Der Mann erhob sich und sein Gesicht leuchtete auf einmal auf. »Sollte er das sein? Kennt ihr ihn?«, fragte er atemlos. »Könnte das der Mann sein, den ich kenne?« Er ging zu einer Kiste hinüber und kam mit einem alten, zerlesenen Markus-Evangelium in der Hand zurück. »Dies ist das Buch, das von meinem Jesus berichtet«, sagte er, und er sprach den Namen besonders liebevoll aus.
»Vor vielen Jahren hat jemand mir dieses Buch auf dem Markt verkauft und ich habe es Tag und Nacht immer wieder gelesen. Noch nie war ich einem solchen Mann begegnet. Ich dachte: Er ist so gut! Kann ich wohl jemals so wie er werden? Jeden Tag frage ich mich, was er wohl tun würde, wenn er hier in meinem Haus wäre. Manchmal meine ich, er sei wirklich hier, in dieser Hütte, und er würde mit mir pflügen und ernten oder neben mir auf der Straße zum Markt gehen. Könnte das derselbe Jesus sein, den ihr kennt?«
Die beiden Freunde blickten den Mann an, sahen in das helle Gesicht, aus dem so viel Liebe strahlte. »Ja, es ist derselbe Jesus«, sagte Jakob. »Es gibt nur einen.« »Na, habe ich Recht gehabt?« Der Bauer, der sie hergebracht hatte, war noch einmal zurückgekehrt und steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Ist das der Mann, über den ihr gesprochen habt?« »Der Mann, von dem wir gesprochen haben, ist hier bei uns«, versicherte David. »Er lebt in diesem Haus. Du hast ganz Recht gehabt.«
Patricia St. John – So groß ist Gott