Patricia St. John – Das geschlossene Fenster

Anna war – von ein paar Erkältungen abgesehen – noch nie richtig krank gewesen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, warum ihr der Hals so wehtat und warum sie sich so elend fühlte. Ihre Mutter blickte sie erstaunt an, als sie den Teller mit ihrem Lieblingsgericht, Bratwurst und Pommes frites, von sich schob. »Nanu, das hast du doch sonst so gern, Anna!«, sagte sie. »Was ist denn los mit dir?« »Ach, nichts«, flüsterte Anna, und dann schien sich auf einmal die ganze Welt zu drehen und sie legte den Kopf auf den Tisch. »Kind, du bist krank!« Mutters besorgte Stimme schien von weither zu kommen. »Lass mich mal deine Stirn fühlen! Du liebe Zeit, du bist ja der reinste Backofen! Jetzt aber nichts wie ins Bett mir dir, Liebes!«

Es war eine unvergessliche Nacht. Anna schlief und wachte auf und schwitzte und fror; so oft sie einschlief, hatte sie unheimliche, Furcht erregende Träume und rief nach ihrer Mutter, die stets an ihrer Seite war. Als der Tag anbrach und die Vögel zu zwitschern begannen, wachte Anna richtig auf und wollte wissen, was mit ihr los war. »Dein Hals ist schlimm entzündet und du hast hohes Fieber«, sagte die Mutter, die aussah, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. »Papa ruft gerade den Doktor an.«

Der Arzt kam schon bald darauf und untersuchte ihren Hals und dann ihren ganzen Körper. Dabei brummte er etwas vor sich hin und schüttelte mehrmals den Kopf. Er sah ziemlich besorgt aus. Anna hörte ihn im Flur mit der Mutter sprechen, konnte aber nichts verstehen. Stunden vergingen. Anna döste ein und erwachte und trank Wasser, und ihre Mutter saß neben ihr. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf. Es wurde wieder Nacht, und die Mutter schlief neben ihr auf einer Matratze am Boden. »Solange sie da ist«, dachte Anna, als sie einmal erwachte, »so lange ist alles in Ordnung. Wenn nur die schrecklichen Halsschmerzen endlich aufhören würden!«

Am nächsten Morgen läutete das Telefon, und dann kam Vater und richtete ihnen aus, was der Arzt ihm gesagt hatte. »Anna, die Untersuchungen haben ergeben, dass du Diphtherie* hast. Du musst deshalb auf die Isolierstation im Krankenhaus. In etwa einer halben Stunde ist der Krankenwagen hier und holt dich ab.« »Du kommst aber mit, Mami, oder?«, krächzte Anna und sah ihre Mutter mit ängstlichen Augen an. Die druckste herum und sah ganz verzweifelt aus. »Ich – das darf ich leider nicht«, murmelte sie schließlich. »Sie holen dich hier weg, weil deine Krankheit ansteckend ist. Aber die Krankenschwestern werden bestimmt sehr lieb zu dir sein, und ich besuche dich heute Nachmittag.«

Wenn es Anna besser gegangen wäre, hätte sie es im Krankenhaus bestimmt ganz lustig gefunden, denn auf der Station gab es noch andere Kinder und die Schwestern waren freundlich. Aber ihr Hals brannte immer noch wie Feuer und sie hatte schrecklich Heimweh. So lag sie nur in ihrem Bett, kämpfte mit den Tränen und blickte zur Tür hinüber. Mutter hatte versprochen am Nachmittag zu kommen, und Anna sehnte sich nach ihr, nur nach ihr.

Dann kam auf einmal die Schwester zu ihr herüber und sagte: »Sieh mal, Anna, da am Fenster ist deine Mutter! Nicht hinsetzen; schön liegen bleiben! Wink ihr einfach zu und lach sie an!« »Aber zeigen Sie ihr doch, wo die Tür ist!«, rief Anna. »Lassen Sie sie schnell herein. Ich muss ihr unbedingt was sagen …, es ist unheimlich wichtig.« »Tut mir Leid, Anna«, sagte die Krankenschwester sehr freundlich, »aber hier darf niemand herein, denn all die Kinder auf unserer Station haben ansteckende Krankheiten. Du möchtest doch sicher nicht, dass deine Mutter krank wird, oder? Wenn du deiner Mutter was Wichtiges zu sagen hast, sag’s mir, ich richte es ihr dann aus.«

Anna schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts auszurichten und sie brachte vor Enttäuschung keinen Ton heraus. Da war ihre Mutter, ihre starke, tröstende Mutter, der einzige Mensch, der ihr jetzt helfen konnte, so nah und wäre so gern ganz bei ihr gewesen; doch sie konnten sich nur hilflos durch die Trennscheibe anschauen. Die Schwester durfte nicht einmal das Fenster öffnen. Sie lächelten einander noch einmal tapfer zu, und dann winkten beide zum Abschied. Anna, die sich schrecklich krank fühlte, vergrub ihren Kopf in den Kissen und weinte, denn es war so, als hätte die Mutter sie überhaupt nicht besucht.

Die Zeit verging im Schneckentempo, und Anna ging es jeden Tag ein wenig besser. Dann geschah etwas Wunderbares. Anna saß in ihrem Morgenmantel am Fenster und ihre Mutter kam wie gewöhnlich, um sie zu besuchen. Doch an diesem Nachmittag öffnete die Schwester das Fenster. »So, jetzt könnt ihr euch in aller Ruhe unterhalten!«, sagte sie. Und wie sie sich unterhielten! Es gab so viel zu erzählen und zu hören – die Neuigkeiten einer ganzen Woche. Sie redeten und redeten, bis die Sonne hinter den Bäumen verschwand und die Krankenschwester Anna ermahnte, jetzt müsse sie aber wieder ins Bett. Schon lange hatte Anna nicht mehr so tief und fest geschlafen wie in dieser Nacht.

Wie gut war es doch zu wissen, dass nie mehr eine Trennscheibe zwischen ihr und ihrer Mutter sein würde. Das Fenster würde nun jeden Tag weit offen stehen. Jetzt verging auch die Zeit schneller, denn das Wetter war schön und Anna durfte mit ihrer Mutter im Park spazieren gehen und draußen mit anderen Kindern spielen. Und vom Fenster ihres Krankenzimmers aus sah sie blühende Hecken und Lämmer, die auf den Wiesen umherhüpften. Nun würde es nicht mehr lange dauern, und sie durfte wieder nach Hause.

Endlich war der ersehnte Tag gekommen. Anna trank im Zimmer der Stationsschwester Kakao, da kam der Arzt mit einem Aktenordner in der Hand herein. »Aha, da bist du ja, Anna«, sagte er. »Na, es scheint alles in Ordnung zu sein. Sie können ihre Mutter anrufen, Schwester, und ihr mitteilen, dass sie Anna heute abholen kann.« An diesem Nachmittag musste Anna sich nicht mehr am Tor von ihrer Mutter verabschieden, sondern konnte mit ihr ins Auto steigen und nach Hause fahren. Keine geschlossenen Fenster mehr und keine Abschiede! Endlich wieder daheim! *Ansteckende Krankheit, die heute nur noch selten vorkommt, weil Kinder dagegen geimpft werden.

Paricia St. John – So groß ist Gott


Und er kam und verkündigte Frieden euch, den Fernen, und den Nahen; denn durch ihn haben wir beide den Zutritt zu dem Vater in einem Geist.

Epheser 2:17 – 18
https://bible.com/bible/157/eph.2.17-18.SCH2000