Johann Wolfgang Goethe und die Pietisten

Von einem anderen Wunsch waren die Dichter der damaligen Zeit, der «Sturm und Drang»-Epoche, beseelt. Sie machten ihr Gefühl zum Fixpunkt, um den sich alles drehte. Auf den Punkt bringt das der Held der «Faust»-Tragödie, wenn er dem naiv-religiösen Gretchen auf dessen Frage «Glaubst du an Gott?» antwortet: «Gott! Ich habe keinen Namen dafür! Gefühl ist alles. Name ist Schall und Rauch.»

Der Faust-Autor Goethe selbst hatte sich als Neunzehnjähriger mit Pietisten angefreundet und sich vorübergehend für den christlichen Glauben begeistern lassen. Doch dann erkaltete sein Herz wieder. Er fürchtete, der Glaube könnte seiner kreativen Entwicklung im Weg stehen.

«Mein feuriger Kopf, mein Witz, meine Bemühung und ziemlich gegründete Hoffnung, mit der Zeit ein guter Autor zu werden, wird jetzt», so gestand er seinem christlichen Freund und Mentor Ernst Theodor Langer, «das wichtigste Hindernis an meiner gänzlichen Sinnesänderung.» Was ihn vor allem vom Glauben abhalte, sei «der Funke von übel angewandter Eigenliebe, der noch zu mächtig ist und, ich fürchte, noch mächtiger werden wird».

Wie mächtig – das demonstrierte er mit 24 Jahren. In seiner Ode an «Prometheus» schimmerte ziemlich deutlich sein eigenes Selbstbild durch: «Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn‘ als euch Götter!», ließ er den mythischen Titanen den Himmelsmächten ins Gesicht schreien. «Hier sitz‘ ich, forme Menschen nach meinem Bilde!»

Goethe fand im hohen Alter versöhnliche, ja bewundernde Töne für den christlichen Glauben. Ein paar Tage vor seinem Tod zollte der 82-Jährige den Evangeliumsberichten seine Anerkennung, «denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art ist, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist.»

Aus Goethes Sicht hatte Jesus aber nicht den Weg zum himmlischen Heil aufgezeigt, sondern lediglich zu einem besseren Leben: «Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit.» Die zurückliegenden Jahrzehnte hatten Goethe von dem Irrglauben kuriert, die Menschen könnten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nach eigenen Vorstellungen realisieren. Die Französische Revolution hatte in einem Blutbad geendet. Sie hatte Europa nicht Frieden beschert, sondern die napoleonischen Kriege. Dabei waren etwa drei Millionen Menschen im Kampf gefallen, noch weit mehr als bei den Schlachten des Dreißigjährigen Krieges.