424 (2.) Für die Vermöglichen war übrigens auch das Bleiben in der Stadt gleichbedeutend mit dem sicheren Untergang, da ein solcher schon um seines Vermögens willen unter dem Vorwand, er sei ein Ueberläufer, aus dem Wege geräumt wurde. Mit dem Hunger verschärfte sich auch die tolle Grausamkeit der Aufrührer, und die doppelte Qual ward von Tag zu Tag immer verzehrender. 425 Da die öffentlichen Getreidevorräthe allerorts vollständig geschwunden waren, überfielen die Banditen sogar die Privathäuser und suchten sie sorgfältig ab. Fanden sie dann etwas, so misshandelten sie die Hausbewohner, weil sie das Vorhandensein von Speisen weggeleugnet hatten, fanden sie nichts, so marterten sie dieselben erst recht in der Voraussetzung, dass sie die Vorräthe nur zu gut versteckt hätten. 426 Hiebei gab ihnen das leibliche Befinden der Unglücklichen einen Fingerzeig, ob sie wirklich [410] noch etwas hatten oder nicht: Waren sie noch ziemlich gut beisammen, so mussten sie wohl auch noch über Speisevorräthe verfügen, nur wer schon ganz abgezehrt war, den ließ man unbehelligt und hielt es auch für ganz überflüssig, einen solchen zu tödten, dem ohnehin gleich die Noth den Garaus machen musste. 427 Viele handelten sich heimlich um ihr ganzes Hab und Gut eine Maß Weizen ein, wenn sie reicher, eine Maß Gerste, wenn sie ärmer waren. Dann schlossen sie sich damit in den entlegensten Winkel des Hauses ein und aßen dort das Getreide in ihrem grimmigen Hunger manchmal sogar noch ganz roh, hie und da auch zubereitet, je nachdem der Hunger und die Furcht es rathsam erscheinen ließen. 428 Ein förmlicher Tisch wurde nirgends mehr angerichtet, und noch fast ungekocht riss man die Speisen aus dem Feuer, um sie mit wilder Gier zu verzehren.
429 (3.) So erbärmlich nun auch diese Nahrung schon war, so konnte man sich der Thränen nicht mehr enthalten, wenn man erst sehen musste, wie die kräftigeren Familienglieder die Speisen an sich rissen, während die Schwächeren wimmernd zusehen mussten. Wie der Hunger bekanntlich alle anderen Gefühle zurückdrängt, so löst er noch am stärksten die Bande frommer Scheu! Denn was einen sonst mit Beschämung erfüllen müsste, das achtet man im Hunger für gar nichts mehr, 430 und so rissen denn auch Frauen ihren Männern, Söhne ihrem Vater und, was selbst einen Stein hätte erweichen müssen, sogar Mütter ihren Kleinen die Nahrung aus dem Munde! Man hatte mit den theuersten Personen, wenn sie einem schon unter den Händen zu vergehen drohten, nicht einmal so viel Erbarmen, ihnen die letzten Tröpflein des verrinnenden Lebens zu gönnen. 431 Aber selbst diese klägliche Nahrung konnten sie nicht ungestört genießen, da die Aufrührer überall sogar auf solche elende Bissen noch Jagd machten. 432 Sahen sie irgendwo ein Haus abgesperrt, so war ihnen das ein Zeichen dass die Leute drinnen Speise zu sich nähmen, und sofort sprengten sie auch schon die Thüren auf, drangen hinein und würgten den Leuten fast den Bissen Brot wieder zum Schlunde heraus! 433 Hier schlug man einen Greis, der von seinem Vorrath nicht lassen wollte, dort schleifte man eine Frau bei den Haaren, weil sie, was sie eben in der Hand hielt, noch verstecken wollte. Weder das graue Haar des Alters, noch das kleine Kind fand Erbarmen: das Knäblein, das seinen Bissen krampfhaft in den Zähnen hielt, ward mit ihm aufgehoben und aus den Boden hingeschmettert. 434 War aber jemand doch noch schneller gewesen, als die Eindringlinge, und hatte er die Speise, die sie zu erbeuten gehofft hatten, schon vollständig verschlungen, so ward er von den Räubern nicht anders, als wäre er dadurch selbst an [411] ihnen zum Räuber geworden, noch grausamer gemartert. 435 Furchtbar waren die neuen Arten von Qualen, die sie ausheckten, um den Versteck eines Speisevorrathes aufzuspüren: mit Kichererbsen verstopften sie den Unglücklichen den Mastdarm und durchbohrten ihnen mit spitzigen Stäben das Gesäß! Peinen, die schon schauderhaft zum Anhören sind, mussten manche erdulden, bloß weil sie von einem einzigen Brot nichts sagen und eine Handvoll versteckter Gerstengraupen nicht verrathen wollten. 436 Und dies thaten die Peiniger nicht etwa darum, weil sie selbst Hunger gehabt hätten, in welchem Falle ja ihr Benehmen, weil von der Noth eingegeben, weniger grausam gewesen wäre, sondern nur zu dem Zwecke, um ihren Frevelmuth zu üben und für die folgenden Tage Lebensmittel aufzuspeichern. 437 Trafen sie auf Leute, welche sich des Nachts aus der Stadt hinaus und fast bis zur römischen Postenkette geschlichen hatten, nur um Feldgemüse und Kräuter zu sammeln, so entrissen sie ihnen in dem Augenblicke, wo die Armen sich bereits vor den Feinden in Sicherheit glaubten, alles, was sie trugen, 438 und gaben ihnen trotz ihres inständigen Bittens und Flehens, und trotzdem sie sie beim Namen des furchtbaren Richters beschworen, ihnen doch einen Theil von dem zu überlassen, was sie sich mit eigener Lebensgefahr gebrockt hätten, nicht das Geringste mehr zurück. Ja es hatte noch seine liebe Noth, dass die Geraubten nicht auch obendrein ums Leben gebracht wurden.
439 (4.) Während die gewöhnlicheren Bürger diese Grausamkeiten von den Schergen der Gewaltherrscher erfuhren, wurden dagegen die in Würden und Reichthum stehenden vor die letzteren selbst geschleppt. Die einen davon wurden unter der erdichteten Anklage, entweder geheime Verschwörungen gegen die Tyrannen angezettelt zu haben oder die Auslieferung der Stadt an die Römer zu planen, hingerichtet. Wozu man aber am gewöhnlichsten griff, das war die Anstiftung eines falschen Zeugen, welcher sagen musste, die Betreffenden hätten zu den Römern überlaufen wollen. 440 Ohnehin schon von Simon ausgezogen, wurden sie noch zu Johannes hinaufgeschickt, und so bekam auch umgekehrt Simon seinen Theil am Raube derer, die zunächst von Johannes waren geplündert worden. Auf solche Art trank man sich gegenseitig das Blut der Bürger zu und theilte sich, sozusagen, in die Leichen der Bedauernswerten. 441 Nur im Punkte der Herrschaft bestand Streit, in den Ruchlosigkeiten vollkommene Einigkeit: denn den andern Theil bei der Quälerei des Nächsten nicht mithalten lassen, galt als eine ausnehmende Schurkerei, und wenn einmal jemand nicht dabei sein durfte, so that ihm dieser Ausschluss von dem grausamen Werke so weh, als hätte er ein Glück verscherzt.
[412] 442 (5.) Was nun die Einzelnheiten ihres ruchlosen Treibens anlangt, so ist es einfach unmöglich, dieselben genau zu verfolgen. Man kann nur kurz das eine sagen: Nie hat je eine andere Stadt solche entsetzliche Leiden erduldet, und nie war ein Geschlecht von Anbeginn der Welt fruchtbarer an Freveln. 443 Haben sie ja doch zuletzt selbst die hebräische Nation verhöhnt, um den Glauben zu erwecken, dass ihre Ruchlosigkeiten eigentlich gegen fremde Bürger gerichtet gewesen, in welchem Falle sie natürlich auch weniger abscheulich erschienen wären. Damit haben sie aber nur die schon anderweitig bekannte Thatsache zugegeben, dass sie selbst eigentlich nur Sclavengesindel, der Abschaum, die Bastarde und Auswürflinge der Nation waren. 444 Während im Grunde nur sie es waren, welche die Stadt ins Verderben stürzten, haben sie die Römer trotz ihres Widerstrebens dazu gezwungen, durch einen unseligen Sieg mit ihrem Namen dieses Zerstörungswerk zu decken, und sie haben die Brandfackel in des Feindes Hand, als sie noch zauderte, fast mit Gewalt an das Heiligthum herangezerrt. 445 So ist es auch sichere Thatsache, dass diese Menschen, als sie von der Oberstadt aus schon in die Flammen des Tempels hineinsahen, dafür weder einen Schmerz noch eine Thräne gehabt haben, während die Römer davon tief ergriffen waren. Doch wir werden darüber später, wenn von diesen Ereignissen die Rede sein wird, an gehöriger Stelle noch reden.
446 (1.) Die von Titus angeordneten Belagerungsdämme schritten rüstig vorwärts, obwohl die Soldaten durch die Feinde von der Mauer herab großen Schaden litten. Er hatte auch einer Abtheilung Reiter den Befehl gegeben, jene Juden, die sich in die umliegenden Thalschluchten herauswagten, um essbare Kräuter zu sammeln, dabei zu überraschen. 447 Zu den letzteren gehörten auch einige bewaffnete Rebellen, die mit den geraubten Nahrungsmitteln nicht mehr das Auslangen finden konnten, aber zum größten Theil waren es arme Leute aus dem Volke, welche die Furcht für das Schicksal der Ihrigen von einem Uebergang zu den Römern zurückhielt. 448 Denn dass sie in Begleitung von Weib und Kindern die Flucht zu den Römern bewerkstelligen könnten, ohne von den Aufrührern bemerkt zu werden, durften sie keinesfalls hoffen; andererseits konnten sie es auch nicht übers Herz bringen, dieselben den Banditen zurückzulassen, von denen sie ja, wie sie wussten, ganz sicher aus Rache für sie selbst würden hingeschlachtet [413] werden. 449 Da nun der Hunger sie trotz ihrer Furcht aus der Stadt hinaustrieb, so mussten sie natürlich in die Gewalt der dort lauernden Feinde gerathen. Bei der Gefangennahme nun wehrten sie sich nothgedrungen aus Angst vor dem Tode, einmal aber überwältigt, meinten sie, es sei mit dem Bitten ohnehin vorbei. So wurden sie denn gegeißelt und mussten vor dem Tode noch allen Schimpf und alle Martern über sich ergehen lassen, bis sie endlich im Angesichte der Stadtmauer ans Kreuz geschlagen wurden! 450 Obschon dem Titus das Elend dieser Unglücklichen, von denen jeden Tag bei 500, manchmal auch noch mehr, in Gefangenschaft geriethen, zu Herzen gieng, so schien es ihm doch nicht geheuer, Leute, die mit Gewalt hatten überwältigt werden müssen, einfach wieder frei zu lassen; wollte man aber soviele bewachen lassen, so hätte im Grunde genommen die Wachmannschaft selbst eher einer Schar von Gefangenen gleich gesehen. Was Titus aber am meisten bestimmte, nicht einzugreifen, das war die Erwartung, es würden sich doch vielleicht die Juden durch diesen Anblick einschüchtern lassen, weil sie die gleiche Strafe für den Fall weiteren Widerstandes zu gewärtigen hatten. 451 In ihrem Grimm und Hass nagelten übrigens die Soldaten die Gefangenen zum Spotte jeden in einer anderen Stellung ans Kreuz, und ob ihrer Masse wurde der Raum für die Kreuze, die Kreuze aber für die Leiber der Opfer zu wenig.
452 (2.) Weit entfernt aber, dass die eigentlichen Aufrührer wenigstens beim Anblick dieser Marter anderen Sinnes geworden wären, schlugen diese daraus auch noch Capital für die Verhetzung der übrigen Menge. 453 Sie schleppten nämlich die Familien der Ueberläufer und die für die Uebergabe eingenommenen Bürger auf die Stadtmauer und zeigten ihnen von dort, was für Qualen die Römer für jene hätten, die zu ihnen ihre Zuflucht nähmen. Dabei erklärten sie noch bestimmt, dass die an den Kreuzen schwebenden Opfer als hilfeflehende Ueberläufer zu den Römern gekommen wären, während sie factisch nur mit Anwendung von Gewalt waren ergriffen worden. 454 Diese Erklärung hielt viele, die sonst gerne zu den Römern übergelaufen wären, in der Stadt zurück, bis man endlich auf die Wahrheit kam. Einige aber suchten trotzdem gleich auf der Stelle das Weite, einem sicheren Tode durch Henkershand entgegen, wie sie glaubten, weil sie den Tod unter Feindeshand im Vergleich zu den Hungerqualen für eine wahre Erlösung ansahen. 455 Titus ließ auch vielen Aufgegriffenen die Hände abhauen, damit man sie nicht in der Stadt für Ueberläufer halten und der Aussage der Krüppel eher Glauben schenken möchte. In diesem Zustande schickte er sie dann zu Johannes und Simon hinein, um [414] sie in seinem Namen aufzufordern, 456 dass sie doch jetzt endlich einmal inne halten und ihn nicht zwingen sollten, die Stadt vom Erdboden zu vertilgen. „Möchtet ihr doch“, ließ er sagen, „wenigstens die letzten Stunden noch zur Umkehr benützen, um euer eigenes Leben und eure wundervolle Vaterstadt zu retten, wie auch den Tempel in seiner alten Unverletzlichkeit zu erhalten“. 457 Zu gleicher Zeit gieng er aber auch fleißig bei den Dämmen herum und trieb die Arbeiter zur Eile an, um jeden Zweifel zu zerstören, dass er über Kurzem dem Worte die That folgen lassen werde. 458 Diese Aufforderungen hatten indes bei den Juden auf der Mauer nur Lästerungen über den Cäsar selbst und seinen Vater zur Folge. „Wir verachten“, schrien sie, „den Tod, besser ihn wählen, als die Knechtschaft! Wir werden euch aber bis zum letzten Athemzuge zu schaden suchen, so viel wir nur können! Und was sollten sich Leute, die, wie du sagtest, ohnehin dem Tod geweiht sind, noch um ihre Vaterstadt kümmern? Was den Tempel betrifft, so hat Gott noch einen herrlicheren als diesen da, nämlich die ganze Welt. 459 Uebrigens wird auch dieser Tempel hier von dem, der ihn zu seinem Wohnsitz erwählt hat, sicher gerettet werden. An der Seite eines solchen Bundesgenossen spotten auch wir aller deiner Drohungen, die nothwendig leere bleiben müssen; denn das letzte Wort hat immer Gott!“ Diese und ähnliche Reden schleuderten sie unter einem Wust von Schmähungen den Römern zu.