Konstanz, die Freie Reichsstadt am Bodensee um das Jahr 1415. 6000 Bürger leben in den engen Gemäuern. Und jetzt sind es 25.000, vielleicht sogar 35.000. Menschen aus allen Ecken der Christenwelt, aus Äthiopien oder Valencia oder dem russischen Nowgorod. Kardinäle und Patriarchen, Mönche, Gelehrte und Gaukler, Banker, die gute Geldgeschäfte wittern, Bettler, die auf Almosen hoffen.
Ein gewaltiger Auflauf, und natürlich dürfen dabei die Huren nicht fehlen, wohl 800 sind es. Der Stadtrat hatte die Preise für Bordellbesuche festgelegt, offenbar recht üppige. „Denk ich an den Bodensee“, notierte eindeutig zweideutig der Lyriker und Liedermacher Oswald von Wolkenstein, „tut mir gleich der Beutel weh.“
Seit November 1414 tagt in Konstanz ein Konzil, dessen politische Aufgabenstellung eine gewaltige war. Die Spaltung der katholischen Kirche, das Schisma beenden.
Drei Päpste sind gleichzeitig im Amt: Benedikt XIII., Gregor XII., Johannes XXIII.
Ein ganz anderes Thema für die Millionenschar der Gläubigen: es geht um die Deutungshoheit über die Bibel.
Bisher war die Auslegung der Bibel ein Monopol des Klerus. Wer es wagt, diesen Anspruch infrage zu stellen oder gar die Autorität des Papstes in Zweifel zu ziehen, gilt als Ketzer.
So wie der Theologieprofessor John Wyclif aus Oxford. Er hatte um 1380 aus früheren Entwürfen anderer eine Übersetzung der Bibel ins Englische in Gang gebracht, um das Gotteswort all jenen Landsleuten, die des Lateinischen nicht mächtig waren, zugänglich zu machen.
Nun kam Jan Hus, Professor der Prager Universität und engagierter Prediger dazu, der die Bibel ins Tschechische übersetzt hatte. Tausende lasen die Bibel.
Jan Hus, längst exkommuniziert, wurde nach Konstanz geladen: Hier, vor den Konzilsvätern, sollte er widerrufen. Hus war gekommen, weil der deutsche König und Kaisersohn Sigismund ihm freies Geleit zugesichert hatte.
Dennoch wurde Jan Hus wegen Häresie in den Kerker geworfen und schließlich bei lebendigem Leib verbrannt, samt seinen Schriften. „Ich weiß“, schrieb er in einem Abschiedsbrief über seine Peiniger, dass sie seine Ausarbeitungen „fleißiger gelesen“ hätten als die Heilige Schrift – „weil sie in ihnen Irrlehren zu finden wünschten“.
Auch sein Freund und Gesinnungsgenosse Hieronymus von Prag, der ihm zu Hilfe geeilt war, starb nach schrecklichen Folterungen im Feuer; die Gebeine Wyclifs – er war bereits seit vielen Jahren tot – wurden ausgegraben und ebenfalls auf den Scheiterhaufen geworfen.
Wer die Bibel in die Sprache seines Volkes übersetzte und damit eine Emanzipation von Rom signalisierte, hatte schnell die päpstlichen Inquisitoren am Hals. Es gab sogar Krieg um die Bibel, richtigen Krieg – zum Beispiel 1419 bis 1434 gegen die Anhänger von Hus, die durchaus abwertend als Hussiten bezeichnet wurden.
Karl der Große ließ Ordnung in das Bibelchaos zu bringen
„Herbst des Mittelalters“, so benannte der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga jene bleierne Zeit nach dem Konstanzer Konzil. Im Frühling dieser langen Epoche, um das Jahr 800, hatte begonnen, was als neue Standardisierung der Bibel bezeichnet werden könnte – es war ein Sprung nach vorn.
Zwar existierte schon seit Jahrhunderten die Vulgata, deren Name bloß „allgemein verbreitete Ausgabe“ oder „allgemeine Übersetzung“ bedeutet. Freilich, so Experten, war sie „keine homogene Arbeit“ gewesen, „sondern eine Zusammenstellung von Texten unterschiedlicher Entstehung“.
Frühere Versionen, schlechte Abschriften und Eigenmächtigkeiten weckten häufig Zweifel am Wortlaut. Da musste Ordnung hinein, und dafür sorgte mit der Kraft seines Amtes und gut gefüllter Schatulle vor allem einer: Karl der Große, legendärer König der Franken.
Der König brachte ein gewaltiges Werk auf den Weg – die verlässliche Fassung der Bibel. „Emendieren“, lautete die Vorgabe. Heißt: die Bibel von Fehlern befreien. Zwei seiner besten Leute am Hofe beauftragte er damit. Sie sollten unabhängig voneinander agieren: Alkuin, ein Theologe aus York, „der Gelehrteste, der überhaupt zu finden war“, wie Karls Biograf Einhard notieren sollte. Und den Westgoten Theodulf, auch er von hoher Intelligenz, belesen, scharfzüngig.
Theodulf war vielleicht der akribischere Arbeiter, Alkuin jedoch der erfolgreichere. Er nämlich schaffte es, dass seine Bibelausgabe den König pünktlich zum wichtigsten Termin in dessen Leben erreichte – seiner Krönung zum Kaiser am 1. Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom. Die Wissenschaftler der Pariser Universität, eine der führenden Akademien Europas, adelten später die Alkuin-Bibel als „Normtext“.
Allegorie, das ist für die mittelalterliche Bibeldeutung ein Schlüsselbegriff. Wörtlich meint er: „Etwas anderes sagen, als gemeint ist“. Denn die buchstäblichen Informationen der Bibel wirkten für die Menschen unverständlich, widersprüchlich, gar unsinnig. Gott, dies wurde zur Geschäftsgrundlage, habe einen höheren, „geistlichen Sinn“ mitteilen wollen. Sobald dies möglich erscheint, muss ein erzählender Bibeltext nicht unbedingt die Tatsachen meinen, von denen in ihm die Rede ist. Beispiel: Die sechs Tage, an denen angeblich die Welt erschaffen worden ist – das brauchten keine menschlichen Tage zu sein.
Petrus de Riga, der auch Pierre Raye hieß und 1209 starb, hatte sein Werk bewusst Aurora genannt – wegen der Doppeldeutigkeit: Aurora heißt Zwielicht, aber auch Morgenröte. So habe er, urteilte ein Experte, die „Wolken der Dunkelheiten des Alten Testaments“ vertreiben wollen, „indem er das scheinende Licht des Neuen Testaments hereinließ“. Altes gegen Neues Testament, die Erfüllung des einen im anderen und die Vorahnung des Neuen im Alten.
Daraus entstand die alte gnostische Vorstellung: Der gute Gott schuf die himmlische Welt, der böse Gott die sündige
Um die Wende des 11. zum 12. Jahrhundert hatte sich eine Glaubensgemeinschaft formiert, die ziemlich rasch an Bedeutung gewann – die Katharer. „Katharoi“ heißen im Griechischen „die Reinen“, im Italienischen „Gazzari“; im Deutschen geriet daraus „Ketzer“. Das Credo dieser Menschen war schlicht und nachvollziehbar: Der gute Gott schuf die himmlische Welt, der böse Gott die sündige.
Und die sündige, die böse Welt offenbarte sich ihrer Überzeugung nach in vielen Protagonisten des Alten Testaments. Deshalb lehnten sie es in weiten Teilen ab oder kritisierten es zumindest heftig. Abraham und Mose, Isaak oder David seien Mörder gewesen, Sendlinge Satans. So dachten viele Hunderttausend Menschen, in Südfrankreich, im Piemont, in Savoyen, Italien, in der Schweiz, in Spanien und im Süden Deutschlands.
Noch eine zweite Fraktion Oppositioneller kam hinzu, die Waldenser. All das brachte die katholische Kirche unter starken Druck.
Die Katharer wollten Kult- und Bibelverständnis radikal ändern; zudem strebten sie, wie die Waldenser, apostolische, urchristliche Armut an. Beide Gemeinschaften nannten sich pauperes, also Arme, auch pauperes Christi, so die Katharer, oder pauperes de Lugduno, „von Lyon“ die Waldenser. „Die römisch-katholische Kirche“, schreibt Weckwerth, „sah sich somit einer gewaltigen, ihren Bestand aufs Äußerste bedrohenden Armenbewegung gegenüber.“
Papst Innozenz III. hatte 1208 zum Kampf gegen die Abtrünnigen aufgerufen, und weil das Städtchen Albi im Süden Frankreichs eine Hochburg der Häretiker war, wurde die 20 Jahre währende, brutale Unternehmung danach benannt: der Albigenserkreuzzug.
Kirchentreue Kreise setzten allerdings auch auf Überzeugungsarbeit. Um den aus ihrer Sicht Irrigen die Richtigkeit orthodox-kirchlicher Anschauungen klarzumachen, entstanden bebilderte Texte, die nur einen Sinn hatten: zu belegen, dass das Heil Gottes vom Alten ins Neue Testament herüberreiche, eines also das andere bedinge und erfülle. Diese Gegenüberstellung, eine Sonderart allegorischen Bibelverständnisses, nennen Fachleute Typologie.
Ein Beispiel: Kreuzigung Christi in der Mitte, Opferung Isaaks links, eherne Schlange rechts, darunter: Seitenwunde Christi, Erschaffung Evas, Mose schlägt Wasser aus dem Felsen. Auf beiden Seiten der Bilder stehen entsprechende Texte, mal lateinisch, mal deutsch, mal deutsch-lateinisch, je nach Ausgabe.
Am weitesten trieb dieses Spiel mit einprägsamen Parallelen in Szenen aus dem Alten und Neuen Testament die biblia pauperum, die Armenbibel. Experte Weckwerth glaubt, dass sie „gewissermaßen das Arbeitsmaterial der Priester und Prediger gegen die Häresie“ gewesen sei.
In allen Phasen des Mittelalters ist die Bibel in Volkssprachen übersetzt worden – ins Alt- und Mittelhochdeutsche, ins Provenzalische und ins Englische, lange schon vor Wyclif. Auch ins Polnische, ins Niederländische, in slawische Sprachen. Kirchenführer allerdings trieb die Sorge um, eine nicht autorisierte Übersetzung könne dazu führen, dass die Bibel der katholischen Lehre zuwider ausgelegt würde. Oder dass die Leser verfälschten Texten aufsäßen.
So untersagte im Jahre 1199 Papst Innozenz III. die Lektüre der Bibel bei privaten Lesestunden, die er „finstere Versammlungen“ nannte. Nach dem Albigenserkreuzzug, auf der Synode von Toulouse (1229), verbot Gregor IX. allen Laien den „Besitz von Büchern des Alten oder des Neuen Testaments“, Ausnahme: Psalter und Stundenbuch.
Bald darauf dekretierten die spanischen Bischöfe auf einer Synode in Tarragona: „Wenn jemand solche Bücher hat, muss er sie innerhalb von acht Tagen … abgeben, damit sie verbrannt werden können.“ Der König ergänzte eine solche Form des Bibelverbots mit dem Hinweis, niemand außer Geistlichen dürfe über den Glauben disputieren, weder öffentlich noch privat. Später wurde dieses Diktum gar in Gesetzesform gegossen.
Die Kleriker behaupteten, so empörte sich ein österreichischer Bibelübersetzer im 14. Jahrhundert, dass nur sie Gottes Wort verstünden – dabei hätten sich viele nie wirklich damit beschäftigt. Der Name des Übersetzers ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hat er ihn aus guten Gründen verschwiegen.
Denn wer sich auf eigene Faust mit der Heiligen Schrift abgab, lebte gefährlich. Erst ein gutes Jahrhundert nach dem Konstanzer Konzil wurde der Bibeltext tatsächlich den meisten Menschen zugänglich, die lesen konnten. Dafür sorgte Martin Luther – eine Gestalt, die für heutige Historiker das Ende des Mittelalters markiert.