„Aussätzige und Sklaven waren nicht die einzigen Schutzlosen von Gottes Kindern. In der ganzen römischen Welt sah man an Straßenrändern oder auf Müllhaufen immer wieder wimmernde Babys, die von ihren Eltern ausgesetzt worden waren. Andere wurden vielleicht in die Kanalisation geworfen, um dort zu Hunderten zu sterben. Von dem einen oder anderen exzentrischen Philosophen abgesehen, hatte diese Praxis kaum einmal jemand in Frage gestellt. Es gab sogar Städte, wo althergebrachtes Recht tatsächlich eine Tugend daraus machte, Babys, die mit Behinderungen auf die Welt kamen zum Wohl des Staates zum Tode zu verurteilen. Sparta, eine der gefeiertsten Städte Griechenlands, war der Inbegriff dieser Politik gewesen, und Aristoteles hatte sie mit dem vollen Gewicht seines Prestiges legitimiert. Vor allem Mädchen waren in Gefahr, nach der Geburt unbarmherzig aussortiert zu werden. Jenen, die vom Straßenrand gerettet wurden, stand ausnahmslos ein Leben als Sklavin bevor. In den Bordellen lebten zahlreiche Frauen, die als Neugeborene von ihren Eltern ausgesetzt worden waren – so viele, dass das Thema lange Zeit Schriftstellern Stoff für Romane geliefert hatte. Nur wenige Völker – der eine oder andere germanische Stamm und natürlich die Juden – standen der Aussetzung ungewollter Kinder ablehnend gegenüber. Ansonsten war es praktisch für jedermann seit jeher völlig normal. Allerdings eben nur so lange, bis sich ein christliches Volk herausgebildet hatte.“
Tom Holland. Herrschaft: Die Entstehung des Westens, S. 154f.