Die Anfänge der historisch kritischen Theologie

Die radikalen Aufklärer lebten in der Illusion, sich wie die unterirdischen Menschen im Höhlengleichnis von Platon allmählich dem Licht entgegenzuarbeiten. Tatsächlich bohrten sie nur tiefere Schächte.

Dabei legten einige religiöse Experten kräftig mit Hand an.

Jesus hatte theologische Experten, die keine Herzensbindung zu Gott hatten, als «getünchte Gräber» bezeichnet. Die attraktive Fassade täuschte über den verrotteten Kern hinweg. Innerlich waren sie abgestorben.

Ab dem 18. Jahrhundert schlug in der protestantischen Theologie die Stunde der lebenden Toten.

Wie so oft bei neuen geistigen Bewegungen gärte es zunächst an den Rändern. Bevor der Geist des Materialismus und Skeptizismus die Theologenzunft erfasste, machten sich Hobby-Theologen zu dessen Sprachrohren. Der Engländer Thomas Chubb verfasste 1738 eine Schrift über «Das wahre Evangelium von Jesus Christus», dem er darin nichts weniger absprach als die Göttlichkeit.

Auf ganz ähnliche Gedanken kam ein Hamburger Gymnasiallehrer, der aus einer Pfarrerfamilie stammende Sprachforscher Herrmann Samuel Reimarus. Während er sich im Schulbetrieb nichts anmerken ließ, beschäftigte er sich privat mit der Frage, ob es vernünftig sei, an Wunder zu glauben. Sein eindeutiger Schluss lautete: Nein.

Sein halbes Leben arbeitete Reimarus heimlich an einem bibelkritischen Text, dem er den Titel «Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes» gab. Darin behauptete er mit großem Pathos, dass die Auferstehung Christi «vor dem Richterstuhl der Vernunft in Ewigkeit nicht bestehen» könne. Reimarus schloss sich der Behauptung des Hohepriesters Kaiphas an, dass die Jesus-Leiche von den Jüngern gestohlen worden sei.

Reimarus traute sich allerdings nicht, sein explosives Buch zu veröffentlichen. Das übernahm nach seinem Tod der Predigersohn und Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing. Ihn hatten die Thesen von Reimarus so beeindruckt, dass er die «Schutzschrift» ab 1774 abschnittsweise als Denkanstöße eines anonymen Bibelkenners veröffentlichte. Es hagelte Proteste, aber auch Zustimmung. Die Wunderskepsis passte gut in eine Zeit, in der alle Traditionen auf den Prüfstand kamen.

Die Debatte erregte auch die Neugier eines hochbegabten Teenagers, Friedrich Schleiermacher. Wie Lessing kam er aus Sachsen. Sein Vater war ebenfalls Prediger gewesen, sein Großvater auch. Die Schulbildung hatte Schleiermacher bei den pietistischen Herrnhutern bekommen. Während er sich auf ein theologisches Studium vorbereitete, brach seine christliche Welt zusammen. Er verlor den Glauben an die Zuverlässigkeit der biblischen Offenbarung.

«Ich kann nicht glauben …», schrieb der junge Friedrich Schleiermacher seinem Vater. Dann listete der Sohn eine ganze Anzahl von Glaubensgrundsätzen auf, gegen die sich seine Vernunft sträubte: «Ich kann nicht glauben, dass der[jenige] wahrer, ewiger Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte. Ich kann nicht glauben, dass sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat.» Überhaupt bezweifelte der junge Schleiermacher die Notwendigkeit des Kreuzestods: «Denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.»

Die Bedenken, die Schleiermacher gegenüber dem Glauben hatte, gingen noch über die Thesen den Ketzers Arius hinaus, der immerhin noch die Erlöserrolle des Messias akzeptiert hatte. Schleiermachers Vater reagierte entsprechend schockiert auf den Brief. Er flehte seinen Sohn an, sein Theologiestudium aufzuschieben, bis die Zweifel ausgeräumt waren.

Schleiermacher studierte dennoch und wurde zu einem der einflussreichsten Theologen der Neuzeit. Schleiermachers «Ich kann nicht glauben» wurde zum heimlichen Motto der liberalen Theologie. Das Etikett «liberal» ist dabei unzutreffend. Denn was ist schon frei an einer Theologie, die sich selbst in die Grenzen der menschlichen Vernunft einsperrt und alles, was darüber hinausgeht, ins Reich der Mythen verweist?

Bei Schleiermacher war Jesus gar nicht gestorben, sondern scheintot ins Grab gelegt worden, um dort wieder zu Kräften zu kommen. Die Jungfrauengeburt hielt Schleiermacher auch für erfunden. Was aus seiner Sicht Jesus auszeichnete, war dessen «vollkommenes Gottesbewusstsein», das heißt: seine enge innere Verbundenheit mit Gott. Christen sollten sich daran ein Beispiel nehmen.

Von Sünde und deren Vergebung durch Jesus war keine Rede mehr.

Mit 28 Jahren trat Schleiermacher eine Stelle als Prediger an der Charité-Klinik in Berlin an. Er verkehrte in den Salons der Stadt, die ganz vom Geist der Romantik durchweht waren. Auf das Gefühl zielten deshalb seine Reden «Über die Religion», die er 1799 veröffentlichte und die er «an die Gebildeten unter ihren Verächtern» adressierte. Er wandte sich an die Bildungselite, um die sowohl Jesus als auch die Apostel noch einen weiten Bogen gemacht hatten.

Den geistigen Honoratioren zuliebe reduzierte Schleiermacher das Christentum auf die zeitgeistigsten Elemente. Vom galiläischen Jesus, der das Weltgericht angekündigt und die Strafe dafür selbst getragen hatte, fehlte in seiner Schrift jede Spur. Nur ab und zu erwähnte Schleiermacher das Christentum. Jesus kam nur ein einziges Mal vor. «Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion», posaunte Schleiermacher seinen Lesern entgegen.

Die Realität seiner Religion zeigte sich in dem Erhabenheitsgefühl, das sie auslöste. Schleiermacher nannte es das «Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit». Sah Immanuel Kant den Zweck der Religion in der «moralischen Besserung» der Menschen, kam es Schleiermacher insbesondere auf die Bewusstseinserweiterung und die Gefühlsstimulation an. Moral und Emotion statt erlösender Liebe und dankbarem Gehorsam – damit war das Evangelium nicht nur völlig verfremdet, sondern zudem noch seines wichtigsten Fundamentes beraubt: der historischen Tatsachen.

Der Apostel Paulus hatte mit geradezu verzweifeltem Nachdruck den Korinthern eingeschärft, dass der christliche Glaube auf einem Ereignis beruhte, der Auferstehung: «Wenn die Toten nicht auferstehen, dann haben alle recht, die sagen: ‹Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!›» Im 20. Jahrhundert bekräftigte Karl Barth: «Der Gegenstand evangelischer Theologie ist Gott in der Geschichte seiner Taten.» Schleiermacher, davon war Barth überzeugt, hatte einen anderen Glauben gepredigt als den christlichen:

«Der Gott Schleiermachers kann sich nicht erbarmen. Der Gott des Evangeliums kann und tut es.»

Wo Schleiermacher aufgehört hatte, machten seine Schüler weiter. Einer von ihnen, David Friedrich Strauß, veröffentlichte 1835 «Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet». Die kritische Bearbeitung bezog sich insbesondere auf die Wunderberichte, die Strauss komplett ablehnte und mit der «jüdischen Wundersucht» erklärte.

Der ein paar Jahre ältere Philosoph Ludwig Feuerbach, der auch von Schleiermacher inspiriert wurde, ging 1841 in seiner Schrift «Das Wesen des Christentums» noch einen Schritt weiter. Für ihn sagten die Gefühle, die von der christlichen Religion ausgelöst wurden, nichts über deren Realität aus. Das Christentum sei völlig losgelöst von jeder erfahrbaren Wirklichkeit und nur die Projektion menschlicher Sehnsüchte.

War’s das mit Jesus, philosophisch und progressiv-theologisch gesehen?

Nicht ganz.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die soziale Frage immer höher auf der politischen Tagesordnung stand, kam Jesus auch in der Bildungselite wieder in Mode. Aber nicht als Erlöser, sondern als moralisches Vorbild, als guter Mensch von Nazareth und als historisches Phänomen. Ihm waren wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Menschheit zu verdanken – mehr aber auch nicht. Golgatha war nur eine Etappe im Siegeszug des Fortschritts.

Der französische Historiker Ernest Renan erzählte 1863 «Das Leben Jesu» ganz ohne Wunder und ohne Auferstehung nach. Das Buch wurde ein enormer Bestseller. Dostojewski lehnte den Roman als «ein von Unglauben erfülltes Buch» ab.

Dafür war Dostojewskis Schriftstellerkollege Leo Tolstoi fasziniert von dem Roman. Tolstoi veröffentlichte später selbst eine «Kurze Darlegung des Evangeliums», aus der er alle übernatürlichen Episoden herausgestrichen hatte. Mit demselben skeptischen Ansatz hatte Anfang des 19. Jahrhunderts der amerikanische Ex-Präsident Thomas Jefferson sich dem Evangelium genähert. Sein Buch über «Das Leben und die Moral von Jesus von Nazareth» endete trostlos mit der Grablegung. Vorher hatte Jefferson sich bemüht, die Lehre Jesu freizulegen aus dem von Wundergeschichten vermeintlich überfrachteten Gesamt-Plot, «wie einen Diamanten aus einem Misthaufen».

Auch Tolstoi hielt die Auferstehung Jesu für eine Erfindung seiner Jünger. Für ihn war die Bergpredigt das Zentrum des Evangeliums, insbesondere der Satz: «Widersteht nicht dem Übel.» Dostojewski, der Tolstoi eigentlich positiv gegenüberstand, war hell entsetzt. Wenige Tage vor seinem Tod las ihm eine Cousine von Tolstoi vor, was der mit «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina» zu Weltruhm gelangte Tolstoi über Jesus geschrieben hatte. Später berichtete sie, Dostojewski habe sich immer wieder verzweifelt an den Kopf gefasst und gestöhnt: «Das ist ja alles falsch!»

Am Ende des 19. Jahrhunderts fielen die Bücher von Strauß, Renan und Tolstoi in die Hände eines angehenden Priesters. Der siebzehnjährige Josef Dschughaschwili bereitete sich an der führenden Bildungseinrichtung von Georgien, dem orthodoxen Priesterseminar in Tiflis, auf eine Laufbahn als Geistlicher vor. Doch was Philosophen und Literaten über Jesus herausgefunden zu haben schienen, ernüchterte ihn zutiefst. Der biblische Erlöser war aus seiner Sicht keiner und die Weltrettung eine rein irdische Angelegenheit, die die Menschen selbst erledigen mussten.

Im Sozialismus fand er seine neue Lebensaufgabe.