Wann Jospeh genau stirbt, verrät die Bibel nicht. Man kann sein Ableben lediglich daraus schließen, dass er nach Auftreten des 12 jährigen Jesus im Tempel von Jerusalem nicht mehr erwähnt wird.
Jesus ist mindestens dreizehn Jahre alt, vielleicht auch schon Anfang zwanzig.
Der Zimmermann Josef ist einer der stillen Helden der Bibel. Loblieder auf ihn werden nur selten gesungen. Dabei weiß jeder Hobbypsychologe, wie wichtig die Vaterbeziehung für jeden Heranwachsenden ist. Ein guter Vater bringt einem Jungen bei, was es bedeutet, ein ganzer Mann zu sein. Und die Evangelisten lassen keinen Zweifel daran, dass Jesus zu einem psychisch völlig gesunden Mann heranreifte.
In den Annalen der damaligen Zeit wimmelt es von katastrophalen Vätern, allen voran Herodes. Aber auch Augustus ist als Vater ein Versager. Er instrumentalisiert sein einziges Kind Julia für seine Zwecke und reagiert auf ihren Widerstand mit brutaler Härte. Die Macht geht ihm über alles, am Ende sogar über das Leben seines Kindes.
Nach allem, was wir über ihn wissen, füllte Josef seine Vaterrolle vorbildlich aus. Man kann davon ausgehen, dass er Jesus in seiner eigenen Profession ausbildete, dem Bauhandwerk. Eine solche Fachausbildung war ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen respektablen Juden und ungelernten Tagelöhnern.
Aller Wahrscheinlichkeit nach ermöglichte Josef seinem Sohn auch Bildung und ließ ihn das Lesen und Schreiben lernen. Auch ist davon auszugehen, dass Jesus aramäisch, hebräisch, griechisch und vielleicht ein wenig Latein sprach. Schließlich wimmelte es in Galiläa von Zugezogenen, ganz zu schweigen von den Bewohnern der griechisch geprägten Dekapolis-Städte im Umfeld von Galiläa. In späteren Jahrhunderten wurde es für fromme Juden Vorschrift, ihren Nachwuchs im Alter von fünf Jahren mit der Tora vertraut zu machen und im Alter von Zehn mit den mündlich überlieferten Tora-Kommentaren der Schriftexperten. Ein hochreligiöser Mann wie Josef, der zudem noch das Messias-Geheimnis seines Sohnes kannte, dürfte dieses Soll eher noch überschritten haben.
Man kann also davon ausgehen, dass Jesus im Teenager-Alter die Tora auswendig kannte – und die wichtigsten Lehrmeinungen der maßgeblichen Tora-Experten obendrein.
Von Bildungschancen, wie sie sich dem gleichaltrigen römischen Upperclass-Sprössling Seneca eröffneten, konnte ein Junge wie Jesus allerdings nur träumen. Senecas Vater engagierte für seinen Sohn einen renommierten griechischen Privatlehrer. Dieser brachte Seneca weit mehr als das Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Er unterrichtete ihn in der damaligen Königsdisziplin: der Redekunst. Jesus war bei der Entwicklung seines rhetorischen Talents ganz auf sich alleine gestellt.
Schon als Teenager musste Jesus mit anpacken, um das Überleben der Familie zu sichern. Jesus war nach dem Tod von Josef die wichtigste Stütze für Maria, entweder als der älteste von insgesamt fünf Maria-Söhnen oder als Marias einziger leiblicher Sohn. Das heißt: Jesus konnte es sich nicht leisten, als müßiger Flaneur die Hügel rings um Nazareth zu durchstreifen und den Tag mit Meditationen zu verbringen. Er musste anpacken, zimmern und dafür vermutlich auch weite Fußwege auf sich nehmen. In den ersten Jugendjahren von Jesus gab es viele Aufträge in der benachbarten Stadt Sepphoris. Der Viertelfürst Herodes Antipas hatte die zerstörte Stadt prachtvoll neu aufgebaut. Es gab neben seinem Palast ein Theater und das einzige Gericht weit und breit, dazu die Villen seiner Regierungsbeamten: also jede Menge zu tun für die regionalen Arbeitskräfte. Antipas hatte seine Jugend im Umfeld des Augustus-Palastes in Rom verbracht. Nun bemühte er sich, in der tiefen galiläischen Provinz einen Hauch von kosmopolitischem Flair zu verbreiten. Er gab Sepphoris auch einen neuen Namen: «Autokratoris», Stadt des Herrschers, gemeint war nicht er selbst, sondern Augustus. Jesus schuftete in der Augustus-Stadt als einfache Arbeitskraft, der göttliche «Gesalbte» in der Stadt, die dem kaiserlichen «Erhabenen» huldigte. Doch dann wurde die Augustusstadt als galiläische Hauptstadt dichtgemacht.
Als Jesus etwa 18 Jahre alt war, erschütterte die Nachricht vom Tod des Augustus auch die galiläische Welt. Seine Pechsträhne hatte in den letzten Jahren angehalten. Seine zwei Favoriten für die Cäsar-Nachfolge, die Enkel Gaius und Lucius, waren überraschend gestorben. Damit blieb nur sein ungeliebter Stiefsohn Tiberius übrig, ein steifer und etwas verschrobener Soldatentyp, dem das geschmeidige Diplomatentalent von Augustus völlig fehlte.
Tiberius war 55 Jahre alt, als er zum Kaiser ernannt wurde. Sofort überboten sich die römischen Verbündeten darin, ihm zu schmeicheln. Auch Antipas, der die Hoffnung auf eine Ernennung zum König noch nicht aufgegeben hatte, legte sich ins Zeug. An der Westseite des Sees Genezareth gründete er, ungefähr dreißig Kilometer von Sepphoris und Nazareth entfernt, seine neue Hauptstadt, die er «Tiberias» nannte, Tiberius-Stadt.
Das landschaftliche Premium-Gelände, auf dem Herodes die Stadt gründete, war aber mit einer schweren Hypothek belastet. Unter der Erde befanden sich zahlreiche Gräber. Für fromme Juden war Tiberias damit unrein. Sie machten einen Bogen um die Luxus-Siedlung. Mit allerlei Anreizen versuchte Herodes nun, Juden dennoch zur Ansiedlung zu bewegen. Diejenigen, die seinem Ruf folgten, waren aus Sicht der Pharisäer gesetzloses Gesindel. Als frommer Jude wird auch Jesus Tiberias meiden. Keiner der Evangelisten berichtet etwas von einem Aufenthalt.
Herodes Antipas bekam in Tiberias bald Gesellschaft aus der eigenen Familie. Sein Neffe Agrippa und dessen Tochter Berenike zogen in die Viertelfürstenvilla. Nazareth war damit vom Hauptstadt-Vorort endgültig zum Provinzkaff heruntergestuft.
Aber Jesus machte keine Anstalten, seine öffentliche Mission zu beginnen. Auch seine Zwanzigerjahre verlebte er, ohne Aufsehen zu erregen.
Welche sozialen Kontakte Jesus in dieser Zeit pflegte, wissen wir nicht. Wenn er Jerusalem besuchte, kehrte er auf dem Weg dahin womöglich beim Priester Zacharias und dessen Frau Elisabeth ein, jedenfalls so lange diese noch lebten. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass er sich mit dem frommen «Aussteiger» Johannes unterhielt, der immerhin sein Großcousin war. Denkbar ist ferner, dass Jesus bereits damals mit Menschen verkehrte, die in seinen späteren Jahren eine Rolle spielten, etwa mit dem frommen Geschwistertrio Maria, Martha und Lazarus.
Markus Spieker Jesus, eine Weltgeschichte S. 204