Als am Vormittag des 1. November 1755, einem strahlblauen Herbsttag, die katholischen Kirchen mit Gläubigen vollbesetzt waren, um der Heiligen und vorbildlichen Nachfolger Christi zu gedenken, bebte in und um Lissabon die Erde. Anstatt des erhofften Segens von oben krachten Trümmer des steinernen Baldachins auf die Gläubigen. Zehntausende starben in den Gotteshäusern oder auf dem Weg dorthin. Neben den meisten Kirchen waren rund die Hälfte der 30.000 Gebäude Lissabons schon beim ersten Erdstoss mit entsetzlichem Krachen eingestürzt. Wie bei einem Vulkanausbruch verdunkelte eine riesige Staubwolke die Sonne über der blühenden Hauptstadt eines Weltreichs, …”
Weltwoche CH

DIe Katastrophe veränderte Europa bis ins Mark. Das portugisische Weltreich zerbrach. Aber auch die Geisteshaltung veränderte sich nachhaltig. Die Tatsache, dass die Kirchgänger während des Gottesdienstes getroffen wurden, stellte vieles in Frage.
Voltaire (1694-1778) spottete
„Wenn die Kirchenväter behaupten, Gott sei ein liebevoller Vater und gerechter Herrscher, geraten sie bald in unentwirrbare Widersprüche.“
Immanuel Kant (1742-1804) musste nach dem schrecklichen Erdbeben von Lissabon „das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (griechisch: Die Rechtfertigung Gottes) erkennen.
Es macht einen Unterschied, ob wir dem Leid abstrakt gegenüberstehen oder ob wir selbst betroffen sind. Hiobs Leben war zerstört. Voll Anklage und Bitterkeit gegen Gott schreit auch er heraus:
„Wie viele Missetaten und Sünden habe ich getan? Lass mich meine Übertretung und Sünde erkennen! Warum verbirgst du dein Angesicht und hältst mich für deinen Feind?“
Hiob 13,23–24;
Hiob schrie seine Wut heraus. Aber anders als Nietzsche zog er nicht den Schluss, Gott ist tot, sondern blieb in Kommunikation. In der Bereitschaft zu hören.
„Ich bin meines Lebens satt; ich will meinem Kummer freien Lauf lassen, will reden in der Bitternis meiner Seele. Ich will zu Gott sagen: Verdamme mich nicht! Lass mich wissen, warum du mich richtest.“
Hiob 10,1–2
Es ist die Frage an mich, was erfüllt mein Herz, wenn es in notvolle Situationen kommt und es geschlagen wird von Zweifeln, Spott und Verhöhnung.
Es ist die Frage an mich, ist mein Geliebter (Jesus) nur ein Wunschtraum? Hat er mich verlassen?
„Als ich meinem Freund aufgetan hatte, war er weg und fortgegangen. Meine Seele war außer sich, dass er sich abgewandt hatte. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete mir nicht.“
Hohelied 5,6
Bleibt dein Herz erfüllt von Sehnsucht nach ihm, unabhängig von deinen wechselhaften Gefühlen oder von den Behauptungen anderer? Hast du dieses Verlangen, bei ihm zu sein, wie es der Psalmist sagt:
„Wenn ich dich nur habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde“
Psalm 73,25
Oder ist mein Herz erfüllt von Wut und Enttäuschung, von Bitterkeit und Resignation? Wirfst du ihm vor, dass er dich im Stich lässt, weil er dich nach dem ersten Gefühlsrausch der Gottesbegegnung auf den schmalen, steilen Weg der Nachfolge schickt? Hegst du Selbstmitleid, weil dein Weg hart und schwierig scheint, kreist du klagend um dich selbst, weil deine Bedürfnisse nach Wohlbefinden und Sicherheit nicht mehr gestillt werden? Dann wirst du bald das Handtuch werfen und andere Geliebte suchen.
Oder bist du entschlossen, den steilen und schmalen Weg bis ans Ende zu gehen – weil du wirklich ihn und nicht dich suchst?
Sein Versprechen ist, dass wir am Ende wieder seine Stimme hören. Und er spricht:
„Du guter und getreuer Knecht, gehe ein zur Freude deines Herrn“?