Rudolf Bultmanns historisches Versagen

Manche sagen er war das größte A******** der Theologiegeschichte. Das ist sicherlich übertrieben. Die Konkurrenz ist allerdings auch groß.

Bronzebüste von Michael Mohns, 2002, am Theaterwall in Oldenburg Von Dbleicher (Diskussion) – Selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0 de

Nach dem massenhaften Blutvergießen des Ersten Weltkriegs verbot es sich, das Evangelium rein historisch als Fortschrittskatalysator zu deuten. Stattdessen wurde es nun existentialistisch interpretiert. Wichtig war nicht mehr so sehr die gesellschaftliche Transformation, die aus dem Glauben hervorging, sondern die innere Freiheit, die er produzierte.

Ganz besonders gerne predigte der in Ostfriesland geborene Marburger Theologe Rudolf Bultmann über diese «innere Freiheit». Mit ihm sackte die protestantische Bibelwissenschaft auf einen neuen Tiefpunkt. Vom folgenschweren Aufprall wissen wir sogar Zeit und Ort: 6. Juni 1941, Klosterkirche Alpirsbach im Schwarzwald. Hier hatte unter anderem einer der einflussreichsten Bibel-Verteidiger gewirkt, Johann Albrecht Bengel.

Bultmann trat nicht nur Bengels Erbe mit Füßen, sondern neunzehnhundert Jahre christlicher Jesus-Verkündigung in die Tonne. «Neues Testament und Mythologie» lautete der Titel des Vortrags, mit dem er den Verfechtern eines materialistischen Weltbildes die weiße Fahne entgegenhielt. Er forderte die Christen dazu auf, sich endlich auf die neue Zeit einzustellen und sich vom Wunderglauben zu verabschieden: «Man kann nicht elektronisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.»

Originell war an dieser Aussage nichts. Bultmanns Primitiv-Naturalismus, der unter anderem die neuen Erkenntnisse der Quantenphysik völlig ignorierte, unterschied sich nur in Nuancen von den Überzeugungen, die Epikur und Lukrez vertreten hatten.

Bemerkenswert ist der zeitliche Kontext, in dem Bultmann dem traditionellen Glauben den Blattschuss verpasste. Das idyllische Schwarzwald-Ambiente trog nämlich. Die Zeichen standen auf totalen Krieg.

Nur sechzehn Tage nach dem Vortrag griff Deutschland die Sowjetunion an. Bald darauf begann das Hitler-Regime mit der «Endlösung», der systematischen Ermordung der europäischen Juden. Auch vor den Juden der Stadt, in der Rudolf Bultmann lehrte, machte der Ausrottungswahn der Nazis nicht halt. Ab der Adventszeit 1941 wurden die verbliebenen Marburger Juden in die Ostgebiete deportiert, um dort ermordet zu werden.

Bultmanns Publikum bei seinem Entmythologisierungs-Vortrag bestand aus Theologen, die dem Hitler-Regime überwiegend kritisch gegenüberstanden. Statt ihr Vertrauen auf den historischen Jesus und seine Erlösungsmacht zu stärken, ließ Bultmann sie verunsichert zurück. Einige der Zuhörer argwöhnten, der 57-jährige Professor sei senil geworden. Andere fanden seine Thesen immerhin ehrlich. «Er hat damit der intellektuellen Sauberkeit und Redlichkeit einen Dienst erwiesen», kommentierte Dietrich Bonhoeffer den Vortrag ein Jahr später: «Ich spräche gerne mit Bultmann darüber und möchte mich der Zugluft, die von ihm kommt, gerne aussetzen. Aber das Fenster muss dann wieder geschlossen werden, sonst erkälten sich die Anfälligen zu leicht.»

Bonhoeffer unterschätzte die Gefahr, die von dem Entmythologisierungs-Ansatz ausging. Nach dem Krieg wurde Bultmann weltweit zum Kronzeugen für ein Christentum, das ohne den Glauben an die leibliche Auferstehung Jesu auszukommen schien. Bultmann hatte ja nicht den Abschied vom Christentum verlangt, sondern nur dessen Anpassung an das neue wissenschaftliche Weltbild. So wenig wundersam das Leben von Jesus gewesen war, so zeitlos wichtig war doch seine Lehre.

Aber welche Lehre eigentlich? Und wie wirkte sie sich im Leben existentiell aus, vor allem in den Jahren 1933 bis 1945? Bultmann hatte offenbar selbst keine Ahnung. Er leistete wie alle Marburger Professoren den Eid auf Hitler, behielt seine Lehr- und Predigttätigkeit unbeanstandet bis zum Ende des «Dritten Reiches». Er hielt zwar Kontakt zu den Theologen und Pfarrern, die kritisch gegenüber Hitler eingestellt waren, bezog aber nicht öffentlich Stellung gegen die teuflische Diktatur.

Kurz nach dem Beginn des Kriegs gegen Russland predigte Bultmann über das Gleichnis, in dem Jesus das Himmelreich mit einem großen Festmahl verglichen hatte. Doch über die Ewigkeit wollte Bultmann nicht reden. Das Gleichnis mahne vielmehr, «bereit zu sein für das, was Gott uns durch das Kommende sagen will. Es lehrt uns, den festen Boden zu suchen, auf dem wir allein echte Ruhe und Tapferkeit finden können.»

Doch worin bestand dieser feste Boden, wenn nicht in einem Glauben, der sich auf Tatsachen gründete?

An der Ostfront trieben Erschießungskommandos jüdische Männer und Frauen zusammen. Wenn die Munition ausging, prügelten sie die Alten, Jungen, sogar Säuglinge, einfach tot. In Marburg rief derweil Bultmann seine Studenten und Kollegen zu Dankbarkeit auf: «Wir durften in diesem Semester in Ruhe unsere Arbeit treiben, während so viele unserer Arbeitsgenossen und Freunde draußen stehen, ihrer Arbeit entrissen, in Not und Gefahr.» In gewisser Hinsicht sei es ja auch ein Wunder, «dass wir hier unsere Arbeit treiben können».

In dunkelster Stunde ließ er nicht das Licht der christlichen Erlösungshoffnung strahlen, stattdessen die Funzel seines Lieblingsthemas, der nebulösen «Freiheit von der Welt». Bultmanns kraftlose Kanzelreden sind der beste Beweis dafür, dass diese Freiheit nicht möglich ist, wenn man sich nicht auch von den Denkvorgaben der Welt befreit.