Friedrich Dürrenmatt zeichnet in seiner 1951 erschienenen Erzählung Pilatus ein sehr spezielles Bild des Prokurators und auch Jesu. Sein Text ist geprägt von düsteren Bildern und bedrohlichen Szenen und konzentriert sich auf die sehr bildhafte Darstellung der Innenwelt eines Individuums. Ohne den Titel und ohne Kenntnis der biblischen Geschichte wäre die Handlung der Erzählung schwer zu verstehen, so wenig wird über das Geschehen berichtet. Dafür werden die Erlebenswelt Pilatusʼ, seine Wahrnehmung und seine Gefühle ausführlich beleuchtet. Sein ganzes Erleben ist in der Erzählung geprägt von Angst. Er sieht vor sich einen Menschen, der von einer aufgebrachten Menge zum Verhör zu ihm gebracht wird, und weiß sofort, dass es sich um einen Gott handelt. Woher er das weiß, wird nicht klar, das Wissen scheint einfach da zu sein.
Pilatus hat ein genaues Bild von Göttern, er kennt die römischen Götter, die mit Menschen spielen wie mit Schachfiguren, sie willkürlich quälen und belohnen. Er ist davon überzeugt, dass dieser Gott gekommen sei, um ihn zu vernichten. Jesus wird in der ganzen Erzählung nicht „Jesus“ genannt, sondern „ein Gott“, „der Gott“ oder einfach nur „Gott“. Er zeichnet sich besonders durch seine Passivität aus, und diese macht Pilatus besonders große Angst. Er versucht mit allen Mitteln, „dem Gott“ eine Reaktion zu entlocken: Er lässt ihn foltern, schickt ihn zu Herodes, der ihn verspottet und verurteilt ihn schließlich zum Tod am Kreuz. Sehr bildhaft beschreibt Dürrenmatt Pilatus‘ Panik: „Zusammengekrümmt wie ein Tier vor Entsetzen lag er irgendwo ohne Schlaf zwischen den kahlen Wänden seiner Gemächer, an denen sich die Flamme der Öllampe spiegelte“. „Der Gott“ ist für Pilatus ein existenziell persönliches Problem. Politisch besteht für ihn überhaupt nicht die Möglichkeit, anders zu handeln, als er es tut, beziehungsweise stellt er sich diese Frage gar nicht. Für Dürrenmatt waren die Eindrücke und Gefühle von Pilatus interessant, die in der Bibel überhaupt nicht zu finden sind. Die politischen Konflikte, die die ganze Geschichte erst hervorrufen, sind ihm egal. Er möchte den Menschen Pilatus entwerfen, von seinen ganz intimen, persönlichen Problemen und Gefühlen berichten. Alles rationale, sogar die Entscheidungsfindung von Pilatus, wird konsequent ausgeblendet. Hier wird nicht, wie in den Evangelien, verkündet oder die Wahrheit berichtet. Pilatus sieht sich in die Zwickmühle gedrängt von einem übermenschlichen Wesen, von dem er überzeugt ist, dass es ihn vernichten möchte. Der römische Pilatus versteht die christliche Botschaft nicht, da er nur Götter kennt, die mit Menschen wie mit Schachfiguren spielen und denen die Menschen egal sind (so wie auch Pilatus die Juden, die Menge, egal sind). Am Ende der Erzählung, nachdem „der Gott“ gekreuzigt und begraben wurde, erhält Pilatus einen Bericht, dass das Grab leer sei. Pilatus reitet selbst hin, um das leere Grab zu sehen. Die letzten Sätze der Erzählung zeigen Pilatus vor dem leeren Grab durch die Augen eines seiner Sklaven: „Ein Sklave aber stand hinter ihm, und der sah dann des Pilatus Gesicht: Unermeßlich war es wie eine Landschaft des Todes vor ihm ausgebreitet, fahl im frühen Lichte des Morgens, und wie sich die beiden Augen öffneten, waren sie kalt.“ Als Pilatus merkt, dass er Recht hatte, dass es sich bei dem Gekreuzigten um einen Gott gehandelt hat, der nun wieder auferstanden ist, bekommt der Leser nicht mehr seine Gedanken und Gefühle, seine Eindrücke zu lesen, sondern nur noch mit den Augen des Sklaven einen Blick „von außen“ auf sein lebloses Gesicht und seine kalten Augen. Durch dieses Ende wird nicht klar, wie es mit Pilatus weitergeht. Wie schon vorher in der Erzählung sind Äußerlichkeiten, beispielsweise seine Karriere, nicht wichtig. Was wichtig ist, ist wieder die innere Entwicklung von Pilatus: Seine Augen sind kalt, wie tot. Er ist an der Begegnung mit dem ihm unbegreiflichen Gott zerbrochen.