Matthias Claudius (Zusammenfassung)

Der Pfarrerssohn Matthias Claudius wirkte inmitten der Sturm-und-Drang-Phase, als hätte er sich im Jahrhundert vertan. Mit seinen Werken rebellierte er weder gegen die herrschende Ordnung, noch betrat er literaturästhetisches Neuland. Als hübsch, aber bieder gelten seine Gedichte bei vielen heutigen Lesern. Im Vergleich zu Goethe, der neun Jahre jünger war, und Schiller, neunzehn Jahre jünger, wirkt Matthias Claudius altbacken.

Sehr zu Unrecht.

Was er textete, war zwar nicht avantgardistisch, dafür zeitlos lebensklug. Claudius erhob die Einfachheit zum Prinzip. Als Herausgeber und einziger Redakteur des «Wandsbecker Bothens» musste er den populären Geschmack treffen. Vielen seiner Leser war nicht bewusst, welch tiefe Weisheit in den Gedichten des treusorgenden Familienvaters steckte.

Goethe hatte sich gerade mit den «Leiden des jungen Werther» einen Namen als Literatur-Wunderkind gemacht, als Claudius 1777 den ersten seiner Gedichts-Klassiker verfasste: «Täglich zu singen». Demutsvoll fröhlicher Gottespreis statt selbstverliebtem Weltschmerz: «Ich danke Gott, und freue mich / wie’s Kind zur Weihnachtsgabe / dass ich bin, bin und dass ich dich / schön menschlich Antlitz habe. […] Ich danke Gott mit Saitenspiel / dass ich kein König worden / Ich wär‘ geschmeichelt worden viel / und wär‘ vielleicht verdorben.»

Zwei Jahre später folgte das Abendlied «Der Mond ist aufgegangen», in dem Claudius wiederum Naturfreude mit Schöpferlob verband: «Gott, lass uns dein Heil schauen / Auf nichts Vergänglich’s trauen / Nicht Eitelkeit uns freun! / Lass uns einfältig werden / Und vor dir hier auf Erden / Wie Kinder fromm und fröhlich sein.»

1783 verfasste Matthias Claudius sein poetisches Meisterstück «Der Mensch». In den achtzehn Versen steckt mehr anthropologischer Tiefsinn als in den kompletten Werkausgaben mancher gefeierten Philosophen. Das zeigt schon ein kurzer Ausschnitt: «Empfangen und genähret / vom Weibe wunderbar / kommt er und sieht und höret / und nimmt des Trugs nicht wahr / gelüstet und begehret / und bringt sein Tränlein dar / verachtet und verehret / hat Freude und Gefahr / glaubt, zweifelt, wähnt und leeret / hält nichts und alles wahr …»

In der Tradition der biblischen Bücher der «Sprüche» und des «Versammlers» gibt der bald sechzigjährige Claudius seinem 16-jährigen Sohn Johannes eine Art Lebenskompass mit auf den Weg ins Erwachsensein. Kurz, klar und durchdrungen von glaubensgenährter Weisheit: «Der Mensch ist hier nicht zu Hause», mahnt der Vater seinen Sohn, «diese Welt ist für ihn zu wenig, und die unsichtbare sieht er nicht und kennt sie nicht.»

Völlig im Widerspruch zur ich-vergötzenden idealistischen Philosophie, die um das Jahr 1800 viele Studenten geradezu magnetisch anzog, plädiert Claudius für Bescheidenheit und Bodenständigkeit: «Bleibe der Religion Deiner Väter getreu und hasse die theologischen Kannengießer. […] Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint, und Du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könnte. Es ist leicht zu verachten, Sohn, und Verstehen ist viel besser. […] Hänge Dich an keinen Großen. Sitze nicht, wo die Spötter sitzen, denn sie sind die elendesten unter allen Kreaturen. Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen achte, und gehe ihnen nach.»

Der Brief endet mit einer Aufforderung, die sich als Motto eines jeden Christenlebens eignet, und mit einer väterlichen Liebeszusage: «Gehe nicht aus der Welt, ohne Deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter des Christentums durch irgendetwas öffentlich bezeuget zu haben. Dein treuer Vater.»

Johannes Claudius, der Sohn, nahm sich die Worte zu Herzen. Nach einer Kaufmannslehre studierte er und wurde Pfarrer in einem kleinen Dorf östlich von Hamburg. Was sein Vater ihn gelehrt hatte, gab er 1826 an Johann Hinrich Wichern weiter. Der damals 18-jährige Theologiestudent war von der Gottesliebe des Claudius-Sohns so beeindruckt, dass er auch etwas Besonderes für Jesus tun wollte. Einige Jahre später rief er die «Innere Mission» ins Leben.