Dass Jesus in einer Großfamilie aufwuchs – mit mindestens sechs Brüdern und Schwestern – wird von mehreren neutestamentlichen Schriften bezeugt (vgl. Familie Jesu).
Alle Versuche, in die entsprechenden Stellen «Cousins» und «Cousinen» hineinzulesen, klingen nicht sonderlich überzeugend. Diese Cousins sind in der Bibel an vielen Stellen eindeutig als Brüder bezeichnet und sogar namentlich benannt.
Es könnte allerdings sein, dass es sich bei den Jesus-Geschwistern um Kinder aus einer ersten Ehe von Josef (Mann von Maria) handelte. Danach wäre Josef ein Witwer und viele Jahre älter als Maria (Mutter Jesu) gewesen. Das ist möglich. Für wie plausibel man diese Variante hält, hängt nicht zuletzt davon ab, ob man bei Maria eine lebenslange Jungfräulichkeit für dogmatisch geboten hält oder nicht. In vielen Christen der ersten Jahrhunderte sträubte sich alles gegen die Vorstellung, Maria wäre nach der Geburt Jesu zur ehelichen Tagesordnung übergegangen. Es gab aber auch Gegenstimmen, die auf einen Vers im Matthäus-Evangelium verwiesen. Dort heißt es von Josef:
«Er schlief nicht mit Maria bis zur Geburt.»
Matthäus 1.25
Damit deutete der Evangelist doch an, dass Maria und Josef nach der Geburt wie ganz normale Eheleute miteinander umgegangen sind. Oder nicht?
Chromatius, ein Bischof im nördlichen Teil von Italien und ein Zeitgenosse des Kirchenvaters Augustinus, kannte das Argument und lehnte es kategorisch ab. Ungefähr um das Jahr 400 gab er zwar zu, dass die Matthäus-Passage sehr unterschiedlich ausgelegt wurde:
«Es gibt nicht wenige rücksichtslose Leute, die dauernd danach fragen, ob die heilige Mutter Maria nach der Geburt des Herrn nicht doch sexuelle Beziehungen mit Josef hatte.»
Diese Frage müsse aber entschieden verneint werden:
«Es ist nicht plausibel, dass die Maria des Evangeliums – eine Jungfrau, die Gott in sich getragen hat, die Gottes Herrlichkeit nicht bloß in einer Wolke gesehen hat, sondern Wert geachtet wurde, Gott in ihrem jungfräulichen Bauch zu tragen – sich anschließend mit einem Mann vereinigte.» Genauso absurd sei die Annahme, dass Josef, «der Mann, der immer das Richtige tat, mit der heiligen Maria nach der Geburt des Herrn schlief».
Ich persönlich halte es für unwahrscheinlich, dass Josef sechs oder mehr Kinder mit in die Ehe brachte. Wie hätte er dann wohl seinen Plan umsetzen können, Maria während der Verlobung heimlich zu verlassen?
Aber Joseph, ihr Mann, der gerecht war (…) gedachte sie heimlich zu entlassen.
Matthäus 1.19
Auch die Reise nach Jerusalem und die Flucht nach Ägypten erscheinen mit einem so großen Familienanhang eher unwahrscheinlich. Dann hätte Josef seine Kinder jahrelang bei Verwandten zurücklassen müssen.
Markus Spieker Jesus S. 183