Martin Luther, der singende Schwan
Überall in Deutschland findet man Schwäne auf den Kirchturmspitzen, und jahrhundertelang wurde Luther in Kunstwerken mit einem Schwan zu seinen Füßen wiedergegeben.
Warum das? Der Grund dafür findet sich schon einhundert Jahre bevor Luther im Jahr 1517 seine 95 Thesen an das Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug. Jan Hus war damals Professor und später Präsident der Prager Universität. Er starb 1415. Er war von ländlicher Herkunft und predigte in der Landessprache statt auf Latein. Er übersetzte das Neue Testament ins Tschechische und sprach die Missbräuche in der katholischen Kirche offen an. »Im Jahr 1412 wurde gegen Hus und seine Nachfolger eine Bannbulle geschleudert. Jeder, der ihn sah, konnte den tschechischen Reformator töten, und wer ihm Nahrung und Unterkunft gab, sollte dasselbe Schicksal erleiden. Als drei von Hus’ Nachfolgern öffentlich gegen den Verkauf von Ablassbriefen sprachen, wurden sie gefangen genommen und enthauptet.«
Im Dezember 1414 verhaftete man Hus selbst und brachte ihn bis zum März 1415 ins Gefängnis. Er wurde in Ketten gelegt und grausam wegen seiner Ansichten gefoltert, die der Reformation einhundert Jahre vorauseilten. Am 6. Juli 1415 wurde er mit seinen Büchern auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Eine Tradition berichtet, Hus habe in seiner Zelle kurz vor seinem Tod geschrieben: »Heute verbrennt ihr eine Gans (»Hus« bedeutet auf Tschechisch »Gans«); aber in hundert Jahren werdet ihr einen Schwan singen hören, den ihr nicht verbrennen könnt. Den werdet ihr anhören müssen.«
Martin Luther war mutig genug, sich selbst als Erfüllung dieser Weissagung zu betrachten, und schrieb 1531: »Johann Hus weissagte von mir, als er aus seinem Gefängnis in Böhmen schrieb:
›Jetzt werden sie eine Gans braten (denn Hus bedeutet Gans); aber nach hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören; ihn werden sie dulden müssen.‹ Und so wird es weitergehen, wenn es Gott gefällt.«