Und jetzt ist es an der Zeit. Vor Müdigkeit fühlt Jirmijah seine Glieder nicht mehr. Zwischen zwei Fingern löscht er das zusammengeschrumpfte Lichtchen aus. So rasch überwältigt ihn die Erschöpfung, daß er aufs Lager fällt, ohne das abgeworfene Gewand vorher vom Boden aufzuheben. Sein Sinn ist leer. Keines der Bilder und Ereignisse dieses Tages bringt sich in flüchtige Erinnerung.
Es ist ein Schlaf ohne Übergang, jäh und tief. Doch dieser Schlaf kann kaum den zehnten Bruchteil einer Stunde gedauert haben, als er so plötzlich weicht, wie er gekommen ist, und einen völlig Erwachten zurückläßt. Dies ist ja das Unaussprechbare an dem, was sich jetzt begibt, daß Jirmijah weniger träumt als je, daß er wacht, klar und frisch wie nach mehrstündiger Ruhe, und der Wirklichkeit und Wahrheit in sich und um sich restlos mächtig ist. Er setzt sich auf und blickt in die nächtige Kammer. Was ist geschehen?
Den Ausschnitt des Fensters hat etwas verdunkelt. Von draußen dringt es herein, biegt und verteilt sich nach allen Seiten, so daß es die ganze Stube erfüllt; nichts Undeutlich-Wallendes, sondern alles klar und ausgebildet bis in das letzte Blättchen. Ein dichtes Blütengezweige ist es, das üppig eindringt und, lebendig sich spaltend, wie ein Netz an den Wänden hinrankt. Als wüchse vor dem Fenster plötzlich ein Baum, dessen Äste in die Kammer greifen. Die Zweige des Mandelbaums sind’s, die am frühesten wach werden im Jahr, gleich am Ende des Winters, wenn sich noch keine Knospe sonst rührt.
Die Zeit der blühenden Mandeln ist jetzt zu Passah schon viele Wochen lang vorbei. Und doch, das Zweigicht des Erwachens, der Ermunterung, der Morgenfrühe, der Jugend, dringt unablässig durch das Fenster. Unzählige Knospen springen auf, weiß und rosarot, entfalten sich, fallen ab, weil andere nachdrängen. Mit Händen könnte Jirmijah die herzbewegende Blust greifen, Zweig um Zweig, Wachblüte an Blüte.
Aber er regt sich nicht auf seinem Lager. Er weiß: dies ist ein Gesicht! Es ist ihm sogar nicht ganz unbekannt, dieses Gesicht der Blütenzweige, wenn es niemals auch nur ein Hundertteil solcher Deutlichkeit und Fertigkeit erreicht hat. Er hält den Atem zurück. Sein Gehör ist aufs äußerste gespannt. Die Stimme muß kommen, die Stimme, die er ja kennt, wenn auch nur als kurze, ungenaue Einflüsterung, oder als fernen, hohlen Anruf, wie von Bergen herabhallend, als täuschenden Echolaut oder als ein prickelndes Mahnen im Innern des eigenen Kopfes. Immer, wenn ein Gesicht und die Stimme ihn überfiel, ist er entflohen und hat sich mit wildem Herzklopfen versteckt. Wie einen Minderjährigen, noch nicht Mannbaren, entsetzte ihn die Furcht vor Erfüllung der Mannbarkeit. Heute aber – er weiß es –, heute hilft ihm keine Flucht mehr; denn er ist mannbar für Gott geworden.
Und die Stimme kommt genau in dem Augenblick, da er ihren Eintritt erwartet. Eine klare und sanfte Mannesstimme. Dunkelrund füllt sie die Kammer aus. Jeder Mauerritz, jede Holzscharte ist gleichzeitig und gleichmäßig voll von ihr. Doch wunderbarerweise hat die Stimme keine Stelle, von der ihre Schwingungen ausgesendet werden. Sie entsteht und verbreitet sich allenthalben auf einmal. Der ganze Raum bringt sie hervor.
Es ist, als sei sie immer dagewesen, verdunkelt nur vom allgemeinen Geräusch der tätigen Welt. Nun scheint dieses Allgeräusch zurückzutreten, wodurch die Stimme hervortritt. Doch auch Jirmijah ist ein Raum. Und auch ihn erfüllt das Allgeräusch, das sich jetzt zurückzieht und die Stimme freigibt. Sie erfüllt demnach nicht nur den äußeren Raum um Jirmijah, sondern auch den innern Raum, der er selbst ist. Die Stimme spricht innen und außen zugleich. Ein doppelter Klang, der sich deckt. Und die Mannesstimme sagt sanft und klar: »Jirmejahu …« Nach einer Weile antwortet der Gerufene schweren Atems: »Hier bin ich …« In dieser Antwort liegt noch ein letzter Rest von listiger Feigheit. Denn dieses »Hier bin ich« genügt nicht.
Anders lautet die Formel, Gottes Stimme zu stellen und sie festzuhalten. Der Priester Eli hat sie dem Knabenpropheten Samuel anvertraut, diese Formel, und Baruchs Mund hat sie vorhin wiederholt, nicht ohne verborgene Ermächtigung. Jirmijah weiß genau, was er zu tun hat. Doch vielleicht geht es noch einmal vorüber. Es geht nicht vorüber an ihm. Wieder füllt sich der Raum, dessen auch er ein Teil ist, gleichzeitig und gleichmäßig mit der dunkelrunden Stimme, die spricht: »Jirmejahu!« Überwunden und mit schwindender Furcht öffnet Jirmijah wie ein zaghaft Betender die Hände und sagt die Formel: »Rede, Herr, dein Knecht hört.« Nun umschreiten die Worte der Stimme fast körperhaft das Lager und versammeln sich am Kopfende. Denn nicht mehr gleichzeitig und gleichmäßig ist auf einmal das raunende Erlauten, sondern es scheint um Jirmijahs Haupt an Dichtigkeit zuzunehmen:
»Ich habe dich gekannt, eh ich im Leib deiner Mutter dich schuf – Ich habe dich ausgesondert, noch ehe sie dich gebar – Ich habe als Künder dich unter die Völker gestellt –«
Innen und außen, wie ein sich deckender Gleichklang, ertönt das dreimal unabänderliche »Ich habe«. Fremd, nicht zu fassen fremd ist die Botschaft, die es bringt. Nie hat Jirmijah in seiner verborgensten Verborgenheit geahnt, daß er zum Werkzeug eines göttlichen Vorhabens bestimmt sein könne, daß er, Hilkijahs und Abis schüchterner Sohn, ein Mensch wie viele andere, vor seiner Geburt schon so viel Zukunft zu tragen hatte. Zwar, daß irgend etwas mit jenen unfertigen Gesichten und Rufen seit seinem dreizehnten Lebensjahr gemeint und gewollt sei, das war weder für ihn noch für Baruch, den Ahnungsvollen, ein Geheimnis. Doch was bedeutet das Wort: »Ein Künder unter den Völkern?«
Welche Völker? Die großen Völker? Assur, Babel, Ägypten? Und er? Wer war er? Ein Scheuer, der die Menschen fürchtete, der sich stets nach Einsamkeit sehnte, ein Untätiger, der jeglichen Streit floh. Wenn Jirmijah auch in dieser großen Stunde, gelähmt, fast ohne Atem und Puls, eingeklammert von solchem Geschehen, dasitzt, so hat sein Geist nicht die geringste Spur von Wachheit, Umsicht und Spannkraft eingebüßt. Noch sucht er nach Auswegen, nach Aufschub und Gnadenfrist.
Mit vollem Wissen um die Unzulänglichkeit seiner Begründung stammelt er im quengelnden Gebetslaut von Kindern: »Herr, Herr, ich tauge nicht … Ich bin zu jung …« Wie matt ist diese Ausflucht für einen Aufgerufenen, der älter als zwanzig Jahre ist. Die ungerührte Antwort der Stimme erfolgt jetzt kaum mehr im äußeren Raume. Sie scheint sich ganz in Jirmijahs Innenraum zurückgezogen zu haben: »Sage nicht, ich bin zu jung. Sondern gürte die Lenden und geh!« In der kurzen Spanne Zeit zwischen seinem ersten
»Rede, Herr, dein Knecht hört« und diesem Auftrag »Sondern gürte die Lenden und geh«, ist Jirmijahs Mut mit unerklärlicher Raschheit gewachsen. Eine große Sicherheit kommt über ihn, als sei er im Umgang mit der Stimme schon alt erfahren. Er gleitet vom Lager und sitzt nun am Bettrand. Das Mandelzweigicht des Erwachens weicht wie mit Neckerei ein wenig vor ihm zurück und verhüllt jetzt völlig den Ausschnitt des Fensters. Die Stimme aber weicht nicht zurück. Sie ist wie immer hier und dort, dem ausfüllenden Wasser in einem Gefäße gleich: »Was siehst du?« »Ich sehe erwachende Frühlingszweige.« »Du hast recht gesehen … Mein Wort erwacht, daß ich’s vollbringe.« Jirmijah springt auf. Zu dem Mut seiner Seele tritt eine neue, schluchzende Begeisterung, Adonai festzuhalten, ihm anzugehören für immer.
Mit brustzersprengender Dankbarkeit erkennt er: dies hier ist nicht Täuschung, nicht Traum, nicht Zauberei, sondern so nah und wahr und wirklich wie er selbst. Er breitet weit die Arme aus. Da sind die Zweige mit den Wachblüten plötzlich dürr geworden und beginnen zu brennen. Im Rahmen des Fensters aber, oder besser, draußen in der nun mondlosen Nacht, zwischen Himmel und Erde, hängt ein großer Kessel an unsichtbaren Ketten. Die Flammen der Feuerung aber sind sichtbar, die ihn von unten her umlecken. Auch dieser Kessel besitzt ein unübertreffliches Dasein. Das Feuer rötet den Siededampf, der ihm entzischt. Er schwankt ein wenig an seiner unsichtbaren Aufhängevorrichtung, und zwar dergestalt, daß sein Rand sich von Norden her gegen Jirmijah neigt und, überschwappend, dicke rotkochende Patzen von Lava, Glutpech oder Schmelzeisen ringsum verspritzt. Die Stimme hat jetzt zum erstenmal einen festen Standort. Ihre Raunung ergeht dicht hinter Jirmijahs Ohr: »Was siehst du?« »Ich sehe einen siedenden Kessel von Mitternacht her …« »Du hast recht gesehen. Von Mitternacht kommt das Gericht.«
Diese Weissagungen übersteigen weit Jirmijahs Fassungskraft. Noch hat er die Gabe nicht, sie zu deuten. Wie frei und unabhängig ist doch der Herr von dem Geiste, den er aussondert, sich seiner zu bedienen. Jirmijah aber wird nicht mehr lange Kraft haben, die Begegnung zu ertragen. Schon werden seine Knie weich und wankend. Immer mehr Dampfgewölk entsendet der Kessel. Die ersten Flecken des Morgenrots streut er umher. Da erhebt sich noch einmal die Raunung des Herrn, und jetzt erst merkt der Ausgesonderte, daß die sanfte, klare Mannesstimme, dies dunkelrunde Ertönen, nicht spricht wie gewöhnliche Menschen, sondern im kühlen, singenden, im eingeteilten Tonfall der Priester: »Ausreißen, zerbrechen, verstören, verderben sollst du – und bauen und pflanzen!«
Die beiden letzten Worte »und bauen und pflanzen« bleiben wie ein Gesang der Kinder Asaphs jubelnd schweben. Jirmijah will rufen, daß er’s in Gehorsam auf sich nimmt. Er kann nicht rufen. Jeder Laut in ihm ist erstorben, jede Antwort durch das Ungeheure abgewürgt. Da trifft ihn die Berührung des Herrn. Und der Herr reckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege mein Wort in deinen Mund. – So nackt und hölzern wird Jirmijah fortan, wenn Neugierige ihn zur Rede stellen, das Unbeschreibliche beschreiben, was jetzt an ihm geschieht. Und jedesmal werden diese Worte der Umschreibung seine Seele quälen wie Anmaßung und leerer Betrug. Gott Zebaoth hat keine Hand, die er von seinem Orte ausstreckt.
Er hat eine Stimme, diese Stimme ist sein Ruach, sein Hauch, den er in den Raum um und in Jirmijah stößt wie eine Trompete. Der Hauch Zebaoths erregt den Schall. Das Erz der Trompete aber wirkt mit, ihn hervorzubringen. Ohne diesen Trichter hätte der Hauch keinen Schall. Die Stimme des Herrn braucht den Innenraum des Menschen. Hauch ist Geist. Hand ist nicht Geist. Und doch, wenn Adonai auch keine Hand besitzt, so berührt er Jirmijah dennoch mit der Hand, er berührt ihn mit wirklicher Berührung. Und diese Berührung ist ein kurzer Schlag auf den Mund. Er durchblitzt den Menschensohn mit dem Schmerz aller Schmerzen, mit der Wollust aller Wollust zugleich. Gäbe es ein Feuer, im tausendsten Teil eines Augenblicks ein Wesen von Fleisch und Blut zu Asche zu brennen: dieser Schmerz wäre der Schmerz der Berührung. Auf dieser geschaffenen Erde gibt es jeden Vergleich für Schmerz. Für die Wollust jener Berührung aber fehlt der Vergleich. Und noch eine dritte Macht liegt in dem Schlag auf den Mund: ein scharfes, eisklares Wissen, nun und allzeit ein anderer zu sein, erneuert und umgeboren durch Tötung und Wiederbelebung. Laut schreit Jirmijah auf, ehe er zusammenstürzt.