Euroklydon – der Sturm des Lebens

Biblischer Hintergrund
In Apostelgeschichte 27,14 wird berichtet, dass Paulus auf seiner Gefangenenüberfahrt nach Rom in einen heftigen Sturm geriet:

„Aber nicht lange danach erhob sich wider ihr Vorhaben ein Sturmwind, genannt Euroklydon“

Apostelgeschichte 27,14 q

Moby-Dick
Melville nimmt den Ausdruck in Moby-Dick auf, wo er im Kontext von Stürmen und der zerstörerischen Gewalt der Natur vorkommt. Melville nutzt ihn nicht zufällig, sondern bewusst biblisch aufgeladen: Der „Euroklydon“ wird zum Bild für ein unbändiges Chaos, das Menschen kaum kontrollieren können – genauso wie der Wal.

„Es war ein seltsamer Ort – ein giebelständiges altes Haus, eine Seite wie gelähmt, und ziemlich schief geneigt. Es stand an einer scharfen, kargen Ecke, wo jener stürmische Wind Euroclydon grausamer heulte als er es je um die zitternde Kiste des armen Paulus tat. Euroclydon ist jedoch ein äußerst angenehmer Lufthauch für jeden, der sich drinnen befindet, die Füße am Ofen, sich auf sein Bett wärmend. ‚Wenn du jenen stürmischen Wind Euroclydon beurteilst,‘ sagt ein alter Schriftsteller – von dem ich die einzige noch existierende Ausgabe besitze – ‚dann macht es einen erstaunlichen Unterschied, ob du ihn durch ein Glasfenster betrachtest, an dem der Frost nur außen sitzt, oder ob du ihn durch ein fensterloses Fenster beobachtest, an dem der Frost auf beiden Seiten sitzt, und dessen einziger Verglasungstischler der Tod ist.‘ … Und doch ist es zu spät, irgendwelche Verbesserungen vorzunehmen. Das Universum ist vollendet, der Dachstein eingesetzt, und die Späne wurden vor Millionen von Jahren weggetragen. Der arme Lazarus dort, mit klappernden Zähnen gegen den Bürgersteig als Kopfpolster, zitternd in Fetzen, er könnte sich die Ohren mit Lumpen verstopfen, einen Maiskolben in den Mund stecken, und dennoch würde ihn der stürmische Euroclydon nicht abhalten. … ‚Was für eine prächtig frostige Nacht; wie funkelnd Orion; welche Nordlichter!‘ sagen sie. ‚Lass sie von ihren orientalischen Sommerklimaten ewiger Gewächshäuser reden; gib mir das Privileg, meinen eigenen Sommer mit meinen eigenen Kohlen zu machen.‘“

Inhalt

Ishmael, der Erzähler, sucht in New Bedford ein Gasthaus und beschreibt ein altes, windschiefes Haus an einer Straßenecke. Dort heult der Euroclydon – ein biblisch benannter Sturmwind – besonders stark um die Mauern. Ishmael stellt fest:

  • Für Menschen, die im Warmen sitzen, wirkt der Sturm fast angenehm oder romantisch.
  • Für die, die draußen frieren, wie der arme „Lazarus“ auf der Straße, bedeutet derselbe Wind Qual und Elend.

Ein „alter Schriftsteller“ (den Melville erfindet) wird zitiert: Ob man den Sturm durch ein Fenster mit Frost außen betrachtet oder durch ein „fensterloses Fenster“ mit Frost auf beiden Seiten (ein Bild für den Tod und die absolute Kälte), macht einen gewaltigen Unterschied.


Bedeutung

  • Doppelte Wahrnehmung derselben Realität: Ein Sturm kann für die einen romantisch wirken, für andere tödlich. Melville spielt hier mit der Relativität der Perspektive.
  • Soziale Spannung: Der arme Lazarus, der frierend auf dem Bürgersteig liegt, steht für das Elend der Ausgestoßenen. Während die Reichen und Geborgenen den Sturm „schön“ finden, leidet er existenziell.
  • Biblischer Bezug: „Euroclydon“ taucht in Apostelgeschichte 27 auf, bei Paulus’ Schiffbruch. Die Erwähnung bindet die Szene an ein Bild von Gefahr, Prüfung und göttlicher Macht.
  • Philosophische Tiefe: Melville deutet an, dass das Universum „fertig gebaut“ ist – an der Härte der Welt lässt sich nichts ändern. Der Mensch kann nur unterschiedlich darauf reagieren: mit eigenem Feuer und Kohlen (also Selbstbestimmung), oder ergeht sich in Leiden.