Die Frage, ob erstens Gott existiert, und wenn ja, wie man ihn sich zweitens vorstellen muss, ist in antiken Intellektuellenkreisen virulent.
In der Regel wird diese Frage beantwortet mit erstens: Ja. Und zweitens: Keine Ahnung.
Noch eine dritte Frage treibt die Philosophen des Altertums um: Wenn es tatsächlich Gott oder Götter gibt – welche Auswirkungen hat das auf das irdische Leben? Interessieren sich die Götter für die Menschen, mischen sie sich in deren Angelegenheiten ein, oder bleiben sie passiv?
Eng mit diesen Fragen verbunden war eine deprimierende Beobachtung, die unter anderem Seneca umtreiben sollte: Warum ging es so vielen anständigen Menschen so schlecht, warum so vielen Übeltätern gut, und was sagte das aus über eine mögliche himmlische Vorsehung?
All diese Fragen standen im Mittelpunkt eines spannenden Schlagabtausches, der im Jahr 45 vor Christus von Cicero dokumentiert wurde. Der römische Staatsmann und Philosoph gab dem Text den Titel «Vom Wesen der Götter». Es ist eine Gegenschrift zur Lukrez-Abhandlung über «Die Natur der Dinge». Cicero war beunruhigt darüber, dass gerade junge Leute sich einem metaphysischen Nihilismus verschrieben. «Die Epikureer haben Italien erobert», jammerte er, weil er fürchtete, dass mit der Religion auch die Moral aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden würde. Cicero protokolliert ein Streitgespräch, bei dem drei der klügsten Denker der damaligen Zeit anwesend sind: der Epikureer Velleius, der an keinen höheren Sinn glaubt; der Stoiker Balbus, der überzeugt davon ist, dass es göttliche Führung gibt; und der Platoniker Cotta, der zwar die Wirkmächtigkeit von Göttern nicht ausschließt, aber auch nicht glaubt, dass Menschen ihr auf die Spur kommen können.
Cicero lässt die verschiedenen Parteien zu Wort kommen.
Die besten Argumente hat der Stoiker Balbus. «Von welcher Beschaffenheit die Götter sind, darüber sind die Ansichten verschieden, aber ihr Dasein wird von niemand geleugnet», eröffnet Balbus seinen Vortrag. Strittig ist allerdings, ob übernatürliche Mächte Teil der Schöpfung oder deren Urheber sind.
Damit zusammen hängt die Frage, wo denn sonst die Ursache für alles Sein liegt? Zufall oder Plan, so heißen die Alternativen,
und der Stoiker lässt keinen Zweifel daran, welche davon er für plausibler hält: «Kann wohl ein gesunder Mensch glauben, dass all die Sterne und alle Planeten, die sich am Himmel bewegen, rein zufällig entstanden sein können?» Er verweist auf die Schönheit der Natur und die Zweckmäßigkeit der menschlichen Körperteile: «Welcher Künstler, wenn nicht Gott, hätte unsere Sinne so perfekt schaffen können?»
Der skeptische Cotta hält dagegen: «Würden die Götter für die Menschen sorgen, dann ginge es den Guten gut und den Schlechten schlecht. Aber gerade das ist nicht der Fall!»
Am Ende der Debatte entscheidet Cicero, dass ihn die Argumente des Stoikers am meisten überzeugt haben. Er kommt mit Balbus zu dem Schluss, dass es einen Schöpfer und Weltenlenker geben muss.
Es ist eine der letzten Schriften von Cicero. Er widmet sie seinem Freund Brutus, der sich kurz darauf am Mordkomplott gegen den Diktator Cäsar beteiligt, fliehen muss und schließlich Selbstmord begeht. Cicero wird auf Befehl des Cäsar-Nachfolgers Augustus hingerichtet.
Kein Gott interveniert.
Der Himmel schweigt.
Nach Markus Spieker Jesus – eine Weltgeschichte – Kapitel 12